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Fremd am Pazifikstrand

Arnold Schönberg kann nur in seinem Lieblingssessel arbeiten, Bertold Brecht besucht in Hausschuhen eine Cocktailparty: Michael Lentz schildert die Flucht deutscher Schriftsteller und Intellektueller während des Zweiten Weltkrieges nach Amerika und deren Leben im fremden Kalifornien. "Pazifik Exil" heißt der erste historische Roman des Berliner Autors.

Von Ralph Gerstenberg | 15.11.2007
    Arnold Schönberg ist aufgebracht. Sein Lieblingssessel, den sich Thomas Mann ausgeliehen hat, um darauf seinen "Doktor Faustus" zu verfassen, ist seitdem nicht mehr derselbe. Äußerlich sieht er zwar aus wie immer, aber irgendwas ist seltsam: Eine Kuhle, ein Loch in der Größe eines Gänseeies! Wie soll man auf so einem Sessel sitzen, auf dem Thomas Mann seine Hauptfigur Adrian Leverkühn die Zwölftonmusik erfinden lassen hat, mit der ja er, Schönberg, einst die Musikwelt revolutionierte? Leverkühn hat sich in Schönbergs Sessel quasi hineingefressen und tönt da nun heraus. Und Schönberg findet im kalifornischen Exil keine Ruhe mehr.

    Diese groteske Szene befindet sich ungefähr in der Mitte von Michael Lentz' Roman "Pazifik Exil", in dem der Autor Porträts aus Nazideutschland geflüchteter Künstler wie Bertolt Brecht, Franz Werfel, Heinrich und Thomas Mann oder eben Arnold Schönberg durch eigene Erfahrungen belebt hat.

    "Den Sessel habe ich selber, und der hat tatsächlich eine Auffälligkeit. Aber der hat nicht eine Kuhle, da fehlt nicht etwas, sondern der hat eine Stelle, ist ein alter Sessel, wo das Leder ein bisschen abfärbt, wenn es wärmer wird. Auch die ganzen Landschaftsbeschreibungen, die es da gibt, das sind ja meine Landschaften, das ist hier, der Berlin-Brandenburgische Raum oder es ist die Eifel. Das heißt, wenn die Leute sich erinnern an ihre Heimat, dann sind das meine Orte sozusagen, wo ich geboren bin und wo ich wohne. Anders, finde ich, kann man keine Intensität erzeugen."

    Diese Heimatbilder mischt Lentz mit Landschaftseindrücken, die er in Pacific Palisades gewinnen konnte. Vor sechs Jahren hat er sich als Stipendiat in der Villa Aurora aufgehalten und begonnen, sich genauer mit dem Schicksal prominenter Exilanten zu beschäftigten. Lentz traf sich mit den Kindern Arnold Schönbergs und interviewte Konrad Katzenellenbogen, einen ehemaligen Sekretär Thomas Manns. Er las Briefe, Autobiografien und Tagebücher. Die Idee zum Roman kam ihm jedoch erst Jahre später, als sich für ihn die Frage stellte, was er anfangen sollte mit all dem Material, das sich im Laufe der Zeit angesammelt hatte. Doch wie nähert man sich als Romanautor Persönlichkeiten wie Thomas oder Heinrich Mann?

    "Komischerweise dachte ich plötzlich, Heinrich Mann gut zu kennen. An Thomas Mann kommt man nicht ran. Das war für mich ganz klar: Der muss der Repräsentative sein und muss der Repräsentative bleiben. Alles andere ist unglaubwürdig oder unwahrscheinlich, selbst im fiktionalisierten Sinne. Ansonsten habe ich natürlich etwas gemacht in dem Buch, was die Literaturwissenschaft abgelehnt hätte, nämlich das Bild eines Autors herauszudestillieren aus seinen Büchern. Ich hab schon so getan in dem Buch, als wäre das erzählende Ich, wenn es das überhaupt gibt bei 'Der Atem' von Heinrich Mann, das ist ja multiperspektivisch, sehr gebrochen erzählt, dass das Heinrich Mann ist, Punkt. Das erzählende Ich in 'Stern der Ungeborenen' von Franz Werfel ist Franz Werfel. Ich hab das quasi alles als Autobiografie gelesen und beschrieben."

    Es sind die Jahre 1940 und 1941. Die geistige Elite des demokratischen Deutschlands befindet sich auf der Flucht vor den Nationalsozialisten. Golo, Heinrich und Nelly Mann, Franz und Alma Mahler-Werfel überqueren unter Strapazen die Pyrenäen und fliehen über Spanien und Portugal in die USA. Bertolt Brecht, dem über Russland die Flucht gelungen ist, musste seine an Tuberkulose erkrankte Mitarbeiterin Margarete Steffin auf der Reise zurücklassen. Auf dem Ozeandampfer, der ihn ins amerikanische Exil bringt, erfährt er von ihrem Tod. Michael Lentz erzählt von den Einzelschicksalen der Emigranten vorwiegend in Monologen, in denen er nicht nur die äußeren Vorgänge der Flucht, sondern auch die Gemütszustände und die Seelenlage der Flüchtlinge beschreibt.

    "Ich hab eine gewisse historische Faktenlage zur Rückendeckung genommen, manche Selbstbeschreibungen der Autoren als Abstützung und den Rest darauf ausgemalt und zwar aus der Ich-Perspektive. Alles andere aus der Er-Perspektive, das wäre wiederum zu distanziert. Es soll schon eine Atmosphäre geschaffen werden, die eine Unmittelbarkeit suggeriert. Es war auch mein Ziel, dass man vergessen könnte, dass es im Zweiten Weltkrieg spielt. Es könnte auch jetzt sein. Dann hat man zwar ein Kabinett merkwürdiger Leute, gut, aber es gibt immer noch merkwürdige Leute auch in diesen kulturellen Zusammenhängen."

    Skurrilitäten und Zwistigkeiten, die Michael Lentz lustvoll ausmalt, bestimmen die Kapitel über das kalifornische Exil. Die Haltung der deutschen Emigranten gegenüber Amerika ist oft geprägt von Ressentiments und dem Gefühl einer kulturellen Überlegenheit, mit denen Heimatverlust und Bedeutungseinbuße kompensiert werden. Heinrich Mann, Arnold Schönberg, selbst Brecht kennt in den USA kaum jemand. Allein Thomas Mann gilt als Repräsentant deutscher Kultur und wird von Präsident Roosvelt empfangen. "Wo ich bin, ist Deutschland", erklärt der Nobelpreisträger. Erzfeind Brecht, der in Hausschuhen und ungebügelter Hose eine Cocktailparty besucht, kontert: "Wo ich bin, ist nicht Thomas Mann." Doch bei allem Sinn für erfundene und überlieferte Anekdoten, erzählt Michael Lentz auch von der düsteren Seite des sonnigen Exils. So lässt er beispielsweise Heinrich Mann am Grab seiner durch Selbstmord gestorbenen Frau Nelly resümieren:

    "In Russland bin ich weltbekannt, in Hollywood nicht gerade ein oscarverdächtiger Drehbuchautor. Hollywood. Kaum auszusprechen. Vielleicht wird mir ja heute noch jemand verraten, wer das Drehbuch zu dem miesen Film geschrieben hat, der hier gerade läuft. Hundert Dollar in der Woche, das war gar nicht mal so schlecht. Ich habe meine Zeit abgesessen, ein Jahr lang. Was von vornherein klar war. Auch mir. Dieses merkwürdige Gefühl, zur Schicht zu gehen, herumzusitzen, Zeit abzusitzen, nach Hause zu gehen in dem mulmigen Gefühl, morgen wiederzukommen. Skandal? Unsinn. Wir waren halt keine Könige mehr. War ich je ein König? Beizeiten vielleicht ein, ach was. Scheitern? Ich war bereits im Kopf gescheitert. Man muss den Kopf nur richtig zu lesen wissen. Und privat? Als in Amerika gestrandeter Schriftsteller schreibe ich Hunderte von Seiten für die Schublade. So sieht es aus. Das nennt man Rückzug ins Private."

    Es gibt ein zentrales Thema, das die deutschen Exilanten jeden Tag am Pazifik beschäftigt: Deutschland! Michael Lentz zeigt in seinem Buch, wie fragil die Identität ist und wie schnell sie zerbrechen kann. Auch der Schweinebraten von Marta Feuchtwanger kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Tisch, auf dem er serviert wird, in der Fremde steht.

    "Ich bin überzeugt, wenn man Heimat verliert, das ist nicht mehr gut zu machen. Wenn man aus einem gewissen Lebenskontinuum herausgeholt wird und hineingepflanzt wie eine Topfpflanze anderswohin, das ist nicht mehr zu flicken. Dann ist aber die Frage, was versucht man dem entgegenzusetzen, wie versucht man sich zu arrangieren, welche möglichen Lebensentwürfe gibt es? Da ist Amerika so ein gewisses Modell, aber Amerika ist auch hier überall. Und ich hab ja auch immer wieder so Gespräche mit türkischen Leuten oder auch italienischen, die dann zunächst mal sagen: 'Deutschland ist ganz toll.' Sie sind jetzt Deutsche und sie gehen nicht mehr zurück. 'Ja, höchstens auf Urlaub' und so. Und nach dem dritten Bier stellt man fest: Ja, ist gar nicht so."

    An einer Stelle im Buch heißt es, die Romane Thomas Manns seien Zweitverwertungen auf höchstem Niveau. Dasselbe gilt auch für Michael Lentz Roman "Pazifik Exil". Mit erstaunlicher Leichtigkeit gelingt es ihm, sein prominentes Personal in Szene zu setzen und mit einer gelungenen Mischung aus Fakten und Fiktionen einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, die bis in die Gegenwart reicht. Vielleicht wird manchmal, vor allem in den Monologen Thomas Manns, zugunsten der Leserinformation etwas viel rekapituliert, vielleicht gerät auch die eine oder andere Figur - Brecht, Alma Mahler-Werfel - zu sehr zur Karikatur, gewiss gibt es kürzungswürdige Redundanzen; das kühne Unterfangen jedoch, einen Roman über das deutsche Exil in den USA zu schreiben und dabei aus historischen Persönlichkeiten Romancharaktere zu formen, ist Michael Lentz, dank seiner lebendigen und wandlungsfähigen Sprache sowie eines respektvollen, aber ungehemmten Umgangs mit großen Namen, auf überzeugende Weise gelungen.

    Lentz, Michael: Pazifik Exil
    S. Fischer, 463 Seiten, 19,90 Euro