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Fremd im eigenen Leben

Die Schweizer Schriftstellerin und Journalistin Annemarie Schwarzenbach würde am 23. Mai ihren 100. Geburtstag feiern. Neben einer atmosphärisch dichten Lebensbeschreibung von Dominique Laure Miermont ist eine opulente Bildbiografie ihres Großneffen, Alexis Schwarzenbach, mit unveröffentlichten Fotos erschienen. Überraschend sind vor allem seine Erkenntnisse über ihren Tod mit 34 Jahren.

Von Christel Wester | 23.05.2008
    Annemarie Schwarzenbachs Wiederentdeckung begann vor gut 20 Jahren mit einem Foto, das heute fast so etwas wie eine Ikone unter den Schriftstellerporträts ist. Aufgenommen von der Fotografin Marianne Breslauer 1932 in Berlin. Viel später, kurz vor ihrem Tod im Februar 2001, erzählte Breslauer:

    " Die Annemarie hatte auf mich dieselbe Wirkung wie auf alle anderen: diese merkwürdige Mischung aus einem Mann und einer Frau. "

    1987 nahm die Zürcher Zeitschrift "Der Alltag" ihr Porträt groß auf die Titelseite, da war Annemarie Schwarzenbach noch eine vergessene Autorin. Auch die Französin Dominique Laure Miermont kannte Annemarie Schwarzenbach bis dahin nicht. Durch das Foto wurde sie auf die Schriftstellerin aufmerksam. Sie fand die junge Frau mit dem Herrenhaarschnitt faszinierend, wie die Einleitung ihrer Biografie belegt.

    "Das etwas unscharfe berühmte Foto, das die ganze Titelseite einer Schweizer Zeitschrift einnahm, war von einer auffallenden Ambivalenz durchdrungen. Es begann schon damit, dass dieses androgyne Wesen eine intensive Präsenz ausstrahlte, die im Gegensatz zu dem abwesenden Blick stand. (...) Hinzu kam, dass die Fotografin, ob mit Absicht oder nicht, eine Beleuchtung von der Seite gewählt hatte, so dass die rechte Hälfte des Gesichts im Schatten lag. Wie gespalten zwischen Schwäche und Stärke ließ die Porträtierte eine mit Zweifeln gemischte heftige Entschlossenheit erkennen und vor allem eine unergründliche Hoffnungslosigkeit, die dieses Bild mit einer dunklen Note überzog."

    Entschlossenheit und Hoffnungslosigkeit, eine helle und eine dunkle Seite: Diese für Annemarie Schwarzenbach charakteristische Ambivalenz arbeitet Dominique Laure Miermont in ihrer Biografie sensibel heraus. Auf der einen Seite stehen: Große Begabung, ungeheure Produktivität und ungewöhnliche Risikobereitschaft. Bereits im Alter von 23 Jahren hatte Annemarie Schwarzenbach im Studienfach Geschichte promoviert und außerdem ihren ersten Roman veröffentlicht. Zwischen 1930 und 1942 erschienen von ihr etwa 290 Reportagen und Essays, außerdem arbeitete sie unablässig an literarischen Texten.

    Sie unternahm – teilweise allein – ausgedehnte Reisen, die sie um die halbe Welt führten. Selbstbewusst pflegte sie einen unkonventionellen Lebensstil und lebte offen lesbisch. Sie war eine sensible und scharfsichtige Beobachterin der politischen Situation. So war es beispielsweise Annemarie Schwarzenbach, die die Idee zu Klaus Manns Exilzeitschrift "Die Sammlung" hatte und ihn auch bei der Finanzierung unterstützte.

    Auf der dunklen Seite stehen dagegen Depression und Drogensucht. Sie unterzieht sich zahlreichen Entziehungskuren, wird jedoch immer wieder rückfällig. Sie gibt sich Morphium- und Alkoholexzessen hin. Ihre psychischen Ausraster gingen bis zur Gewalttätigkeit.

    "Miro, wieder in höchst beängstigenden Zuständen. Ihr schaurig sich verändernder Blick. Die verhängnisvolle Stelle zwischen den Augenbrauen."

    Notiert Klaus Mann, der sie Miro nennt, in seinem Tagebuch. Dominique Laure Miermont hat für ihre Biografie zahlreiche Briefe und persönliche Aufzeichnungen von Freunden Annemarie Schwarzenbachs genutzt, so auch Klaus Manns Tagebuch. Auf diese Weise gelingt ihr eine atmosphärisch dichte Lebensbeschreibung. Es ist nicht das erste Mal, dass die Französin über die Schweizerin schreibt. 1989 erschien in Frankreich eine Biografie, die Dominique Laure Miermont gemeinsam mit der Schweizer Co-Autorin Nicole Müller verfasst hat. Seitdem hat sich Miermont weiterhin intensiv mit Annemarie Schwarzenbach beschäftigt. Sie hat viele ihrer Werke ins Französische übersetzt - Texte, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten: stark autobiografisch geprägte Gedichte und Romane, Essays und Kommentare zum Zeitgeschehen, einfühlsame und sozial engagierte Reportagen.

    "Am steilen Abhang stehen Häuser, lichtlos und leblos wie Kulissen, kein Feuer in den Kaminen, die Türen verschlossen. Hier wohnt niemand, möchte man denken – hier kann niemand wohnen. Blasse Kinder spielen unter den Pfeilern der Brücke, klettern im Stahlgerüst, gedeihen im Schatten. Negerburschen, dünn und schlotternd in ihren zu leichten Kleidern."

    Ein Ausschnitt aus einer Reportage, die Annemarie Schwarzenbach 1937 in den USA schrieb. Sie reiste durch die von Wirtschaftskrise, Naturkatastrophen und Rassenkonflikten gezeichneten Südstaaten. Ihre Artikel, die in zahlreichen Schweizer Zeitungen erscheinen, zeichnen sich aus durch lebendige Schilderungen der Lebensverhältnisse der armen Bevölkerungsschichten – aber nicht nur: Annemarie Schwarzenbachs Reportagen sind immer auch politische Analyse. Und sie bezieht Position.

    "Der Weiße, der mit so grausamen Methoden den Neger in Abhängigkeit und Schrecken erhält, fürchtet offenbar die andere Rasse mehr, als er sie verachtet. Er beruft sich auf die wirtschaftliche Untüchtigkeit des Negers und auf seine moralischen Defekte, um die unwürdigen Verteidigungswaffen zu rechtfertigen, derer er sich bedient. Aber, wenn es sich um die Verteidigung und den Anspruch einer höheren Rasse handelt – nicht um einen Klassenkampf also – wie ist es dann zu erklären, dass die große Zahl der Weißen auf den Plantagen unter den gleichen Bedingungen leben muss wie die Neger, in der gleichen Abhängigkeit, in der gleichen Armut?"

    Als politische Autorin wird Annemarie Schwarzenbach seltener wahrgenommen. Stärker im Blickfeld ist die Seite ihres Schaffens, die geprägt ist von radikaler Subjektivität und pathetischer Innerlichkeit. Das sind charakteristische Züge eines Teils ihrer literarischen Arbeiten, vor allem ihrer Gedichte. Ein Ausschnitt aus dem Gedichtzyklus "Kongo-Ufer". Er ist bisher nur in einem belgischen Verlag in einer deutsch-französischen Ausgabe erschienen, die Dominique Laure Miermont herausgegeben hat:

    " "Die Stunden verrinnen, ich wollte klagen,
    sie haben mich seit vielen Tagen umhergetrieben,
    und ich habe nur ein Leben. Vergeben
    will ich es, hinbringen in die Schnelle
    eines Herzschlags, ich habe doch Flammen
    gesehen, und Opfer, habe doch Töne vernommen,
    die wie hereinbrechendes Leid
    alles Bedenken auslöschten, und Erinnerungen durchziehen
    manchmal wie allmächtige Ströme die
    Landschaft. Hundertmal hat meine arme
    Seele den Tod geliebt, der ihr versagt ist.
    "

    Die Autorin hat in dieser lebendig geschriebenen Biografie eine Fülle von Zitaten verwendet. Einmal aus Werken Annemarie Schwarzenbachs, wobei die Biografin sie stets einbettet in ihren Entstehungskontext. So kann man die Entwicklung der Schriftstellerin und Journalistin ebenso hautnah verfolgen wie ihre vielen teilweise abenteuerlichen Reisen: In Persien, Afghanistan, Indien und im Kongo ist sie gewesen, und auch zwei Mal in Moskau. Miermont hat außerdem bisher unbekannte Briefwechsel einbezogen und vor allem französische Quellen erschlossen. Trotzdem ist ihre Biografie nicht ganz auf dem neuesten Stand. Aber das Original ist in Frankreich auch bereits vor vier Jahren herausgekommen, nur die deutsche Übersetzung erfolgte erst jetzt.

    Und zwar zeitgleich mit einer weiteren Publikation zu Annemarie Schwarzenbach, deren Autor auf bisher völlig unzugängliche Quellen zurückgreifen konnte – Quellen aus dem Familienarchiv: Der Großneffe der Schriftstellerin, Alexis Schwarzenbach, hat zu ihrem 100. Geburtstag eine opulente Bildbiografie mit vielen unveröffentlichten Fotos erstellt. Dieser Band enthält einen umfangreichen biografischen Text, der trotz der familiären Nähe eine bemerkenswert kritische Distanz an den Tag legt.

    Überraschend sind die Erkenntnisse über Annemarie Schwarzenbachs Tod: An den Folgen eines Fahrradunfalls, lautete bisher die offizielle Version. Auch der Verdacht einer "toxischen Enzephalitis" wurde geäußert, das heißt einer durch jahrelangen Drogenmissbrauch verursachten Gehirnerkrankung. Alexis Schwarzenbach recherchierte, dass seine Großtante offensichtlich an den Folgen einer psychiatrischen Fehldiagnose und den damals drastischen Behandlungsmethoden starb. Als eine Form von Euthanasie deutet er das Sterben der Schriftstellerin, mit der er der verbreiteten pathetischen Deutung ihres frühen Todes als Erfüllung einer Sehnsucht entschieden entgegentritt. Eine Deutung, der leider auch Dominique Laure Miermont erliegt.

    Die inhaltliche Auseinandersetzung mit ihrer Schwarzenbach-Biografie wird aber zur Zeit durch einen weitaus schwerwiegenderen Vorwurf überschattet – den des Plagiats. Im Jahre 1995 erschien schon einmal eine Biografie zu Annemarie Schwarzenbach, die noch heute im Buchhandel erhältlich ist. Sie wurde verfasst von der Frankfurter Rechtsanwältin und Germanistin Areti Georgiadou. Der Titel lautet "Das Leben zerfetzt sich mir in tausend Stücke". Georgiadou wirft Miermont nun vor, Teile ihres Buches in sehr ähnlicher Weise verwendet zu haben. In der Tat gibt es Übereinstimmungen – ohne dass Miermont auf die Quelle verweist. Ein schwer nachvollziehbares Versäumnis, da doch Miermont in ihrer Einleitung Georgiadous Biografie erwähnt und am Schluss ihres Buches darauf hinweist, dass sie ihr wichtige Informationen verdankt. Warum führt sie dann den Titel nicht in ihrer Bibliografie an und macht die offensichtlich übernommenen Passagen kenntlich? Merkwürdige Ungereimtheiten, die sich auf Nachfrage nicht klären ließen. Areti Georgiadou hat eine einstweilige Verfügung gegen Dominique Laure Miermonts Schwarzenbach-Biografie beantragt. Und Miermonts Anwalt rät ihr, keine Interviews mehr zu geben, bevor der Sachverhalt geklärt ist. Dennoch: Miermont ist eine profunde Kennerin von Annemarie Schwarzenbachs Werk und ihr Buch eröffnet eine differenzierte Sicht auf die Schriftstellerin.

    Dominique Laure Miermont:
    Annemarie Schwarzenbach. Eine beflügelte Ungeduld. Biografie.
    Aus dem Französischen von Susanne Wittek.
    Ammann Verlag, 470 Seiten, 34,90 Euro

    Alexis Schwarzenbach:
    Auf der Schwelle des Fremden. Das Leben der Annemarie Schwarzenbach.
    Collection Rolf Heyne , 420 Seiten, 58,00 Euro