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Fremdbestimmung

Rana Dasgupta beschreibt in seinem Roman "Solo" anhand der Figur Ulrich die bulgarische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Niedergang und Verlus prägen sein Leben. Der zweite Teil des Buches überrascht: Er ist Spiegel und Gegengeschichte zugleich.

Von Claudia Kramatschek | 07.03.2011
    Der Mann ist plötzlich aufgewacht, in der Totzone der Nacht. Es ist ungewöhnlich heiß für die Jahreszeit, sein Hals schmerzt, und in jeder seiner Falten sammelt sich der Schweiß. Er taumelt zum Waschbecken und trinkt Wasser. Dann setzt er sich in seinen Sessel und schnaubt ein paar Mal, um seine Nase freizumachen. Der Busbahnhof vor dem Haus wird modernisiert, und selbst zu dieser Nachtzeit heulen die Bohrmaschinen. Im Interesse der Verbrechensbekämpfung hat man auf dem Bahnhofsvorplatz zwei gleißende Flutlichtlampen angebracht. Das Licht scheint die Vögel zu verwirren, denn sie stimmen ihren morgendlichen Gesang neuerdings mitten in der Nacht an, gerade wenn der Mann endlich in den Schlaf gefunden hat. Im Augenblick kreischen sie wie besessen.

    Sofia, am Ende des 20. Jahrhunderts. Ein Mann – sein Name ist Ulrich – sitzt in seinem Zimmer. Die Geräusche der Welt dringen in sein Ohr, er selbst ist blind. Bald wird er 100 Jahre alt und er weiß, sein Leben nähert sich dem Ende. Die Zeit, die ihm noch bleibt, verbringt er mit den schwindenden Erinnerungen an sein Leben, in dem er ein ereignisreiches Jahrhundert an sich hat vorüber ziehen sehen. Er selbst dagegen hat all das, was er einst geliebt hat, verloren oder nie bekommen. Dies ist – in knappen Strichen skizziert – die Ausgangsszene und Rahmenhandlung von Rana Dasguptas Roman "Solo”, dessen erste Überraschung für manche Leser sicher der Schauplatz ist: Bulgarien, gesehen aus der Feder eines britischen Autors, der seit knapp zehn Jahren in Indien lebt.

    "Ich empfinde Bulgarien als einen Ort von großer Melancholie. Das Land befand sich an der äußersten Peripherie von Europa, es musste viel von der Gewalt und den Opfern ertragen, die das 20. Jahrhundert forderte, und dennoch ging es mit leeren Händen aus. Daher schien mir Bulgarien ein interessanter Schauplatz, um von dort aus die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu erzählen – nicht aus der Perspektive der Großmächte, sondern aus der Perspektive all jener, die zwar Teil der Geschichte waren, aber nie selbst die Kontrolle darüber hatten, sondern stets von außen kontrolliert wurden. Und dieser Aspekt der bulgarischen Geschichte – dass das eigene Leben, die eigene Geschichte von Anderen bestimmt und gemacht wird – scheint mir zugleich universal für die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Denn die Mehrzahl der Menschen auf diesem Planeten hat genau diese Erfahrung gemacht."

    Hatte Dasgupta in seinem ersten Prosaband "Die geschenkte Nacht" von den Bedingungen der Existenz im Zeitalter der Globalisierung erzählt, kann "Solo” vor allem als eine Auseinandersetzung mit der Frage verstanden werden, was geschieht, wenn ein Land – in diesem Falle Bulgarien – sich auf den Weg in die Moderne begibt. Wie in Zeitraffer lässt Dasgupta durch die Augen seines Helden Ulrich – als Zeitzeuge seines Jahrhunderts nicht umsonst der Namensvetter des Musilschen "Mann ohne Eigenschaften" – die Geschichte Bulgariens an uns vorüber ziehen, beginnend mit den letzten Zuckungen des Osmanischen Reichs, in dem noch Ulrichs Vater, ein Verehrer der deutschen Kultur, beheimatet war, über die tragische Verwicklung in den Zweiten Weltkrieg und den anschließenden Versuch, Bulgarien als booming nation des Sozialistischen Ostens zu etablieren, bis hinein in die von Vetternwirtschaft und Korruption verseuchte postsozialistische Gegenwart.

    Ulrichs Nachbarin ärgert sich, und ihr Hinken klingt schlimmer als sonst.
    "Bei uns kommt immer noch Wasser durch die Decke", sagt sie bitter. Der Mann, der über ihr wohnt, ist seit Monaten nicht mehr gesehen worden, und niemand hat einen Schlüssel zu seiner Wohnung.
    "Ich weiß nicht, was da los ist. Ob er einen Wasserhahn nicht zugedreht hat oder ob ein Rohr geplatzt ist. Das muss das reiste Schwimmbad sein da oben, unsere Decke ist völlig durchnässt. Wir müssen mit dem Regenschirm auf die Toilette."
    Sie ist gekommen, um Ulrich seine Tabletten zu geben. Sie riecht nach Moder.
    "Dem Mann geht's besser als jedem Politiker. Der hat in wenigen Jahren so viel Geld verdient, dass er sich nicht mal die Mühe macht, seine alte Wohnung zu verkaufen. Er hat sie einfach zugesperrt und ist verschwunden, niemand weiß, wohin."


    Dasgupta erzählt diese Geschichte unter dem Signum des Verlusts, des kollektiven wie des individuellen, des menschlichen wie des kulturellen: Die Musik – die im Roman eine große Rolle spielt – ist Ulrichs große Liebe, doch sein Vater – selbst ein verhinderter Musiker – verbietet ihm das Geigenspiel. Er begeistert sich für die deutsche Chemie – und muss zusehen, wie sie in den Händen der Machthabenden zu einem Instrumentarium des Todes wird. Seine Mutter, die sich im Widerstand gegen die Vernichtung der Juden engagiert, kommt in ein Arbeitslager. Seine Ehe mit der Schwester seines besten Freundes scheitert, der Sohn lebt unerreichbar in Amerika. Dem nicht gelebten Leben – das den jeweiligen Ideologien geopfert wird – stehen die Opfer zur Seite, die gebracht werden, um die Geschichte voran zu bringen. Dasgupta – selbst ein fast romantischer Bewunderer der deutschen Kultur und Geschichte – bringt dafür stellvertretend eine Episode aus Albert Einsteins Leben ins Spiel:

    Als Student in Zürich hat sich Einstein in eine hochintelligente serbische Studentin namens Milewa verliebt. Es hat nicht lang gedauert, und Milewa war schwanger. Du weißt ja, wie das damals war: Einstein hatte Angst, ein Skandal könnte seiner Karriere schaden, und hat sie zu ihren Eltern auf den Balkan geschickt. Während sie weg war, bekam er die Anstellung im Schweizer Patentamt, und von da an ging es bergauf mit ihm. ... Als Milewa wieder nach Zürich kam, musste sie das Kind zurück lassen.

    "Einsteins Versagen oder besser gesagt, die Art und Weise, in der sein Bestreben nach wissenschaftlichem Erfolg auf Kosten der Menschen ging, die ihn umgaben, ist Teil meines Nachdenkens darüber, dass dort, wo etwas gewonnen und erreicht wird, immer auch etwas zurück gelassen oder zerstört wird. Von diesen Hinterlassenschaften der Geschichte handelt der Roman, denn das berührt zugleich ein sehr aktuelles Thema, das uns alle angeht: Was zum Beispiel wäre der akzeptable Preis, wenn etwa zwei Billionen Inder und Chinesen den gleichen Lebensstandard haben wollen wie die Amerikaner oder die Deutschen? Würden wir dafür jeden Preis zahlen? Würden wir dafür zum Beispiel weitere Kriege in Kauf nehmen? In welchem Verhältnis stehen demnach der Zugewinn und die Verluste der Geschichte – das ist eine der zentralen Fragen meines Romans."

    "Solo" liefert darauf eine auch formal verblüffende Antwort. Der Roman gehorcht nämlich nicht einfach nur einer linearen Erzählung von Niedergang und Verlust, vom nicht gelebten und unter falschen Vorzeichen gelebtem Leben. Dasgupta schenkt seinem Helden Ulrich nämlich ein zweites Leben. Von diesem Leben – geschildert wie ein zwischen magischem Realismus und greller Bildershow oszillierender Tagtraum, in dem sich all das erfüllt, was Ulrich im realen Leben versagt geblieben war – handelt das Zweite Kapitel des Romans. Es ist Spiegel und Gegengeschichte zugleich. Motive aus Ulrichs Leben kehren wieder – und doch sind wir in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort. Wie in einer Zeitreise landen wir mit Ulrich im 21. Jahrhundert, erst im postsozialistischen Georgien, wo Bereicherung um jeden Preis angesagt ist, dann im glitzernden Showbusiness von New York. Und: Dasgupta führt drei neue Figuren ein, allem voran die lebensgierige Chatuna.

    "Der zweite Teil des Buches kreist um drei Personen, von denen zumindest eine, Chatuna, jenen neuen Typus Mensch repräsentiert, der nun etwa in Gegenden wie Indien oder Osteuropa zu beobachten ist: Es sind Menschen, die eine ganz andere, viel gewaltvollere Geschichte hinter sich haben als ihre westlichen Zeitgenossen und nun plötzlich dazu gehören, die aber eine ganz andere Idee vom Kapitalismus haben. Viele erhoffen sich den großen Gewinn – weil sie Krieg, Verlust, Armut bestens kennen. Chatuna ist daher ein extremer Charakter. Sie verfügt über enorme Energie und würde alles tun, um sich und ihren Bruder abzusichern. Tatsächlich würde und wird sie andere zerstören. Das Gegengewicht zu ihr bilden zwei Künstler: ihr Bruder, der Poet ist, und ein Musiker. Künstler symbolisieren für mich das menschliche Vermögen, in moralischer, ethischer, philosophischer Hinsicht kreativ zu sein. Denn ich hoffe, dass wir als Menschen des 21. Jahrhunderts in der Lage sind, unser Leben so zu gestalten, dass es lebenswert bleibt."

    Nicht immer – so muss man einschränken – wird Dasgupta diesem thematisch so ernsten wie hochgesteckten Anspruch in Gänze gerecht. Besticht das erste Kapitel durch historische Sachkenntnis und den kühnen Bogen, der Zeiten und Ereignisse in einer klaren, angenehm unprätentiösen Sprache zusammenhält, so überschlagen sich im zweiten Kapitel die Bilder und Ideen in halsbrecherischen Volten. Dennoch: "Solo" ist ein düsterer Reigen, der den unsichtbaren Strömen einer sich globalisierenden Welt in so frischer wie irisierender Weise Stimme verleiht. Umso gespannter darf man sein auf sein nächstes Buch – das endlich von Indien erzählt.


    Rana Dasgupta: Solo. Roman. Aus dem Englischen von Barbara Heller. Blessing Verlag 2010. 462 S., 21,95 Euro