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"Fremde Freunde"

Ethnologen stützen sich bei ihren Forschungen in fremden Kulturen stark auf mündliche Auskünfte von Gewährsleuten, also Informanten, die in der beobachteten Gesellschaft tief verwurzelt sind. Während der meist monatelangen Zusammenarbeit entstehen oft Freundschaften und immer kulturell bedingte Missverständnisse. "Fremde Freunde" heißt ein Buch, das eine Gruppe Schweizer Ethnologen nun herausgegeben hat.

Von Günter Beyer | 08.08.2005
    Manchmal tauchen bei Reisen in die weite Welt Probleme gar nicht dort auf, wo wir Besucher aus Europa sie erwarten. Dafür an anderer Stelle. Es war gar nicht so schwer, 1989, kurz vor der Unabhängigkeit Namibias, Menschen zu finden, die bereit waren, über den Krieg im Ovamboland zu sprechen. Wie die damals feindlichen südafrikanischen Truppen bei Tag und Nacht in die Gehöfte eindrangen, unter Faustschlägen die Bewohner verhörten, ob sie Guerrilla-Kämpfer der SWAPO gesehen hätten. Aber eine Frage sollten wir besser nicht stellen, riet unser Übersetzer, ein finnischer Missionar:

    "So how many cattle do you have?
    That is not asked here.
    No?
    No!"

    Die Frage, wie viel Stück Vieh die Familie besäße, erscheint uns harmlos. In der Kultur der Ovambo aber - und vieler afrikanischer Völker - berührt die Frage ein Tabu. Manchmal schließen sich dann die Türen für Besucher aus dem Norden. Die Wissenschaft, die hierzulande unbekannte Regeln, Gebräuche und Strukturen in fremden Gesellschaften erforscht, ist die Ethnologie. Bei ihren Forschungen an Ort und Stelle macht bereits Gedrucktes nur einen kleinen Teil der Quellen aus, aus denen die Ethnologen schöpfen. Sie stützen sich auf mündliche Auskünfte von Gewährsleuten, also Informanten, die in der beobachteten Gesellschaft tief verwurzelt sind. Während der meist monatelangen Zusammenarbeit entstehen oft Freundschaften. "Fremde Freunde" heißt ein Buch, das eine Gruppe Schweizer Ethnologen nun herausgegeben hat.

    "Die fremden Freunde, das sind unsere Informantinnen und Informanten."

    - Simone Prodolliet, eine der Herausgeberinnen.

    "Sie sind auf der einen Seite eben diejenigen, die uns über das Fremde aufklären, um zu verstehen, wie eine andere Gesellschaft funktioniert, wie sie organisiert ist, und als Freunde bezeichnen wir sie, weil wir über längere Zeit mit ihnen zusammen gelebt haben, mit ihnen eigentlich durch Dick und Dünn gegangen sind."

    Und Mit-Herausgeber Michele Galizia ergänzt:

    "Wir haben uns gedacht, es wäre doch schön, mal den Fokus auf diese Personen zu lenken und zu erzählen: Wie ist es uns ergangen, wie ist es ihnen ergangen, was haben wir gemeinsam erlebt, wo hatten wir Schwierigkeiten?"

    "Fremde Freunde" wirft sehr persönliche, bisweilen amüsante, auch selbstkritische Blicke auf den Dialog zwischen Forschern und Beforschten. Einige Kapitel lesen sich geradezu als Hommage an jene faszinierenden und kompetenten Menschen, die die Schweizer Forscher draußen "im Feld", in Asien, Südamerika und Afrika kennen lernten. Das Buch erzählt aber auch von ungeahnten Rollenverwirrungen und Missverständnissen, in die Ethnologen verstrickt wurden. So schildern Romana Büchel und Susanne Loosli die Tücken ihres Forschungsaufenthalts auf der indonesischen Insel Flores bei Maria Méo Welé, genannt "Mama Mia", deren Herzlichkeit die beiden Ethnologinnen sofort in ihren Bann schlägt. Als "teilnehmende Beobachterinnen" sind die beiden Schweizerinnen fest verankert im Alltag ihrer Gewährsfrau. Sie helfen der alten Frau im Haus und hacken auf ihren Feldern.

    Überraschend erklärt Mia, dass das von mir bearbeitete Feld fortan mir gehören werde. Ich wehre entsetzt ab. Erst nach und nach, als ich (...) vom Verlust der drei Töchter erfahre, realisiere ich die Botschaft, welche hinter ihrer symbolischen Vererbung des Landstückes steckt: Mia hat in uns ihre drei verlorenen Töchter wieder gefunden.

    Noch mit 33 Jahren adoptiert, wieder Kind zu werden, stürzt Romana Büchel ein Dilemma.

    "So entspreche ich als Tochter auf der einen Seite dem in der Ethnologie groß geschriebenen Credo der völligen Integration, auf der anderen Seite bringt mich die Doppelrolle als Tochter und Forscherin oft in eine unbehagliche Zwickmühle."

    Für ihre ethnografische Arbeit profitiert "Tochter Romana" von Mama Mias hohem Ansehen im Dorf. Andererseits versucht die Gewährsfrau, Romana als Verbündete gegen ihre eingeheiratete Schwiegertochter in Stellung zu bringen. Überhaupt, "teilnehmende Beobachtung" ist harte Arbeit: Es ist anstrengend, Mama Mias fortgesetzten Nötigungen, mehr zu essen und endlich "schön dick" zu werden, mit gebotener Höflichkeit abzuwehren! Es ist schwierig, mit dem Neid der Dorfbewohner auf Mama Mia umzugehen, die mit Gästen von so weither protzen kann! Auf die Frage, woher genau die Europäerinnen denn kämen, antwortet Mama Mia: "Aus meiner Gebärmutter".

    Galizia:
    "Wenn man nun wie die beiden Frauen als ältere und jüngere Schwester adoptiert wird, wenn dann auch noch ihre Eltern zu Besuch kommen, dann entstehen Sachen, die sonst gar nicht entstehen können. Da werden Feste gefeiert, da werden Verbrüderungen gefeiert zwischen den Eltern, da werden Rituale ausgeführt, die sonst gar nicht ausgeführt worden wären."

    Während Ethnologen Feldforschung à la Mama Mia als Glücksfall betrachten, kann umgekehrt ein kleiner Fauxpas Türen für lange Zeit schließen. Simone Prodolliet war mit dem Forschungsvorhaben "Wandel der Frauenrolle" in eine Kleinstadt nach Sumatra gereist. Dort hatte sie sich in einem Haus eingemietet, deren Verwalterin sie gerne als Informantin gewonnen hätte.

    "Der Ehemann unserer Vermieterin, der war arbeitslos zu dieser Zeit, und er ist da rumgestrichen, und immer, wenn ich dann am Morgen meine Notizen aufgearbeitet habe, habe ich gesehen, wie er da draußen saß auf der Treppe, und ich habe dann manchmal für mich einen Kaffee zubereitet und ihn dann gefragt: "Willst du nicht auch einen Kaffee trinken?" Und er hat dann dankend angenommen, hat aber dann sich nicht zu mir reingesetzt, sondern war da draußen auf der Treppe und hat seinen Kaffee getrunken."

    Die Ethnologin bemerkte, dass ihre Vermieterin ihr immer reservierter begegnete und Fragen auswich - ein Abwehrverhalten, das sie sich zunächst nicht erklären konnte. Monate später war Simone Prodolliet zu einer Hochzeit eingeladen. Dort beobachtete sie, wie das Brautpaar sich gegenseitig zu essen und zu trinken gab.

    "Und ich hab dann interpretiert, dass wahrscheinlich das der Grund war, dass die Frau, die meine Vermieterin war, das Gefühl hatte, ich hätte ihrem Mann gegenüber Avancen gemacht, die eben sich nicht gehört hätten."

    Eine Tasse Kaffee als symbolische Aufforderung zu einer Affäre - das wäre der Forscherin nicht in den Sinn gekommen. Umgekehrt war ihr etwas mulmig, als eine junge Frau, die sie mehrmals interviewt hatte, sie einlud, mit ihr die Nacht auf ihrer Matratze zu verbringen. Tatsächlich suchte die junge Indonesierin aber nur eine Gefährtin für die Nacht. Denn nachts können die Geister für allein Schlafende gefährlich werden! Einfühlsam und kenntnisreich werden in den sechzehn Beiträgen des Bandes interkulturelle Grenzüberschreitungen, Missverständnisse, aber auch tief empfundene Freundschaften beschrieben. Ein Buch, lesenswert nicht nur für den ethnologischen Nachwuchs, sondern für alle, die Vergnügen daran haben, sich "fremde Freunde" zu machen und dabei einem - durchaus heilsamen! - Kulturschock auszusetzen.

    Fremde Freunde. Gewährsleute der Ethnologie
    herausgegeben von Charlotte Beck und anderen
    Edition Trickster im Peter Hammer Verlag
    280 Seiten, 19,90 Euro.