Donnerstag, 28. März 2024

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Fremde Seelen

Vier Wochen lagen nun vor Mark, vier abgefahrene Wochen. Sommerferien in Berlin bedeuteten Partys, Clubs, wilde Nächte und mit seinem coolen Onkel durch das Nachtleben der Hauptstadt ziehen. Keine Eltern, also kein Stress, sondern Abenteuer und Action pur. Mark hatte genug von den Gesprächen, Ermahnungen und Vorhaltungen. Köln und die Eltern waren endlich weit weg und in Berlin wartete die Freiheit auf ihn. Wenn es einen Ort auf der Welt gab, wo Mark frei sein konnte, dann war das seiner Überzeugung nach Berlin. Und wenn es überhaupt einen Menschen auf der Welt gab, der einen Fünfzehnjährigen verstand, dann war das Onkel Volkmar.

Joachim Scholl | 15.11.2003
    Denn dieser Onkel ist so völlig anders als die Erwachsenen, die Mark kennt. Onkel Volkmar wohnt in einem schicken Loft, er arbeitet als Fotograf, reist um die Welt, kennt Models und Stars, hört die neueste Musik, kennt die heißesten Trends. Natürlich fährt er auch keine langweiligen Spießerautos, sondern tolle Schlitten, einen Jaguar oder sogar einen Morgan. Und Onkel Volkmar behandelt Mark nicht wie einen kleinen Jungen, sondern als Kumpel, Freund und vor allem – als gleichberechtigten Erwachsenen. Kein Wunder also, dass Mark mit den größten Erwartungen nach Berlin reist. Doch schon die Ankunft ist merkwürdig. Am Bahnhof steht kein Onkel Volkmar, und als er schließlich doch noch kommt – er hatte seinen Neffen glatt vergessen – fährt er in einem alten verbeulten Toyota vor. Ein Toyota! Außerdem wirkt Onkel Volkmar seltsam angespannt, und schon in den nächsten zwei Tagen dämmert es Mark, dass hier einiges im Argen zu liegen scheint. Onkel Volkmars Frau und seine Stieftochter Friederike sind weg, ausgezogen, er selbst pumpt seinen Neffen um Geld an. Und dann ist Onkel Volkmar plötzlich weg und Mark sieht sich konfrontiert mit finsteren Typen von einem Inkasso-Büro, die das schicke Loft in seine Einzelteile zerlegen. Für Mark zerplatzen die Illusionen: Onkel Volkmar ist am Ende! Und verdattert starrt Mark auf diesen Scherbenhaufen.

    Oftmals in Biographien – bei Erwachsenen, aber auch gerade bei pubertierenden kommt so dieses Gefühl, dass man gar nichts mehr hat, mit leeren Händen dasteht, dass alles, was man vorher gemacht hat, nicht mehr klappt und man sich irgendwie komplett neu erfinden und ausdenken muss. Und da ist es allerdings meine Meinung, dass es in der Regel nicht allzu gut funktioniert, sich noch einmal vollständig neu zu definieren, sondern es besser ist, während einer Krise in die eigene Biographie zu schauen: was hat man gemacht, warum hat man es gemacht, es gab ja Gründe, weshalb man sich mit etwas beschäftigt hat – und da wieder anzuknüpfen, um sich aus dieser Krise herauszuheben, das war der Anlass für dieses Buch.

    Das allseitige Chaos, das Thomas Fuchs mit rasanten Schnitten inszeniert und zunächst immer weiter steigert, ist für die jugendliche Seele Marks fast ein bisschen viel. So manches Mal schwankt er zwischen Tränen und Verzweiflung, verspürt den brennenden Wunsch, sofort abzuhauen, heim in die gewohnte Umgebung, deren Ordnung und Wohlanständigkeit mit einem Mal gar nicht mehr so spießig, sondern eher trostvoll und beschützend wirkt. Dann aber obsiegt der Trotz, Mark "ermannt" sich im Wortsinn. Es muss doch für Onkel Volkmar eine Lösung geben! Als dessen Stieftochter und Marks Cousine, Friederike, auftaucht, bilden die beiden fortan ein Team. Vor den Toren Berlin, in einer Gartenlaube, treiben sie den geflüchteten Volkmar wieder auf. Dort steht auch ein halbzusammengebauter Oldtimer, an dem der Onkel seit zwanzig Jahren schraubt, ein alter Citroen DS, eine Rarität, für die Liebhaber ein Vermögen zahlen würden. Jetzt kommt Mark die rettende Idee, und nun werden er und Friederike zur treibenden Kraft, um den Onkel aus seinem Elend herauszureißen. Vom großen Vorbild ist nicht mehr viel geblieben, aber Mark gelingt es, diese Ernüchterung in Solidarität zu verwandeln.

    Es war mir für die Figuren wichtig zu zeigen, dass nichts ist, wie es auf den ersten Blick scheint, also, alles, was am Anfang toll ist, später kippt und erst einmal ganz schrecklich wird, um dann allmählich wieder auf Mittelmaß zurückzupendeln. Für Mark liegt ein Stück seines Erwachsenwerdens in dem Buch auch darin, dass er die Qualität seiner eigenen Familie schätzen lernt, das, was sein Vater für ihn getan hat, aber auch zu zu versuchen zu verstehen, wie Erwachsene funktionieren. Das war für mich sehr wichtig, in der Adoleszenz-Geschichte. So wird Mark in diesen vier Wochen Berlin quasi erwachsen. Er weiß vorher noch nicht, was er will, aber er weiß hinterher zumindest, was er nicht will, nämlich so zu sein, wie Onkel Volkmar teilweise ist.

    In Marks Gedanken und Sehnsüchten, seinen einander widerstreitenden Gefühlen spiegeln sich die pubertären Krisen, wie sie wohl jeder erwachsene männliche Leser kennt. Thomas Fuchs hat tief in der eigenen Psyche nach diesen Situationen geforscht. Dennoch ist es ein Wagnis, als erwachsener Autor über eine Generation zu schreiben, die inzwischen von ganz anderen Voraussetzungen bestimmt wird. Wie trifft man den Ton, fängt den Zeitgeist der Jugend von heute ein, ohne dass es gewollt und anbiedernd klingt – und auf eine wenn auch getarnte Erwachsenenpredigt hinausläuft?

    Ich glaube, das geht nur dann, wenn ich bei mir bleibe. In dem Moment, wo ich mir selbst erzähle von dem, was ich in jenem Alter empfunden habe, welche Probleme ich hatte, die sich, glaube ich, auch nie ändern. Das bleibt einfach gleich. Von daher finde ich dieses Alter der 14- bis 16-Jährigen wirklich ungemein spannend, weil das ein Alter ist, in dem alles im Leben auf den Prüfstand kommt, und ich weiß selber von mir, mit meinem Bruder zusammen, wie wir nächtelange Gespräche führten, furchtbare Kräche in Restaurants mit meinen Eltern hatten, wo man ihnen wirklich alles um die Ohren gehauen hat, was einen gestört hat. Diesen Findungsprozess finde ich immer am interessantesten. Im letzten Buch hatte ich das so arrangiert, dass sich der 15-jährige mit den Idealen eines Kleineren auseinandergesetzt hat. Und diesmal ist es sein großes Vorbild, und das hat völlig neue Möglichkeiten geboten.

    Das zentrale Motiv von Thomas Fuchs letztem Roman "Die Welt ist ein Fahrrad" bildete ein Drahtesel. Jetzt ist es ein Auto, eben jener alte Citroen, der quasi von der ganzen Familie bis ins letzte Detail restauriert wird. Das ist Thomas Fuchs‘ spezielle Technik, die er mit jedem Buch verfeinert: Die Handlung in eine externe Welt präziser Einzelheiten einzubetten und auf diese elegante Weise den Raum zu schaffen, in dem sich Dialoge und Szenen ganz natürlich entfalten können. Die Protagonisten sprechen über Kabelwellen, Fensterheber und Anlasser und reden zugleich über ihre Probleme und Gedanken. Die zarte Moral vom gesunden Erwachsenwerden versteckt sich zwischen den Zeilen, und zu keinem Zeitpunkt hat man das Gefühl, dass es doch nur wieder ein abgeklärter Erwachsener ist, der einer verstörten Jugend klarmacht, was es mit dem Leben alles auf sich hat. So ist "Offener Himmel" wieder eines dieser guten Bücher geworden, das es nicht nötig hat, seine guten Absichten zu propagieren. Der Autor, der selber Vater ist, weiß ohnehin, dass dies bei Heranwachsenden kaum verfängt. Thomas Fuchs würde es schon genügen, wenn ein junger Leser...

    ... hinterher ein bisschen mehr darauf vertrauen würde, dass er zwar noch nicht weiß, wo es mit ihm hingeht, dass er aber weiß, dass er irgendwo ankommen wird.

    Thomas Fuchs
    Offener Himmel
    K.Thienemanns Verlag, 272 S., EUR 14, 90