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Fremde Sitten

Während des Smalltalks mit Kollegin Julie schließt Kerstin Meints die Tür auf zu ihrem kleinen Reich, dem Baby-Lab . 30.000 Pfund, umgerechnet 45.000 Euro, hat die Einrichtung gekostet. Die 1996 neu gegründete Universität Lincoln rollte der Deutschen den roten Teppich aus, nachdem sie in Oxford die Untersuchungsmethode des "Preferential Looking”, die Blickpräferenzmethode entscheidend weiterentwickelt hatte. Damit testet Kerstin Meints erfolgreich schon sechs Monate junge Kleinstkinder. Auf dem Schoß der Mutter sitzend, die während des Tests die Augen verbunden hat, sollen sie das passende Bild auf der Videoleinwand anschauen.

Von Elske Brault |
    Die Augenbewegung des Babys gibt Auskunft über sein Wortverständnis. Es scheint simpel. Und ist doch die Frucht langer Überlegungen. Sechs Wochen hatte Kerstin Meints, 1996 noch Doktorandin in Hamburg, an dem Experimentaldesign herumgebastelt. Das Baby-Lab existierte damals nur auf dem Papier. Doch ihre Ideen beeindruckten den bekannten Oxford-Professor Kim Plunkett, den sie auf einer Tagung kennen gelernt hatte, so sehr, dass er die Deutsche zu sich nach Oxford holte und Forschungsgelder für sie beantragte. Äußerlich wirkte der Fachbereich Psychologie in Oxford zwar auch nicht berauschender als in Hamburg, aber hinter jeder zweiten Tür saß ein weltberühmter Forscher. Und Kerstin Meints war mitten unter ihnen.

    Man ist einfach mit diesen Leuten in Kontakt, und die kommen eben auch, weil man selber in dem Fachbereich Vorträge gibt. Die sitzen dann als Publikum in meinem Vortrag und geben Kommentare. Und das ist natürlich ‚ne ungeheure Hilfe, weil die so ein Experimentaldesign schnell durchschauen, und die sagen: OK, könnte man das noch anders machen, und viele gute Tipps geben. Man lernt ungeheuer viel in sehr kurzer Zeit.

    Diese Atmosphäre von Aufgeschlossenheit und Austausch schätzt Kerstin auch im ländlichen Lincoln. Junior- und Seniordozenten, Doktoranden und Professoren arbeiten gleichberechtigt miteinander.

    Wir arbeiten in Teams. Heute ist zum Beispiel "Thinking on Language”, in dem Kurs sind wir drei Dozenten, die unterrichten, und die auch Seminare machen mit den Studenten. Das heißt, wir haben Treffen, in denen wir das Programm abstimmen, das läuft hier über zwölf Wochen wie in Deutschland, das Semester, und die Themen werden eben abgesprochen. Der Vorteil ist eben, dass man wirklich in seinem Spezialgebiet unterrichtet oder in einem Gebiet, wo man mehr herausfinden möchte.

    Und das immer interdisziplinär. Obwohl Kerstin Meints Linguistin ist und ihren Doktor im Fach Anglistik gemacht hat, arbeitet sie jetzt im Fachbereich Psychologie. In dem sie nie studiert hat.

    Das hat die Psychologen hier an der Uni nicht gestört, das hat in Oxford niemanden gestört. Die haben eher gesagt: Ach toll, da kommt jemand mit 'nem Fachwissen aus so einem Bereich, die kann Experimente fachgerecht designen und ausführen – super! Die sehen das eher als Gewinn an.

    18 Uhr abends. Kerstin holt ihre anderthalb Jahre alte Tochter Zoé vom Kindergarten ab. Die Kleine spricht mit ihrer Mutter deutsch, im Kindergarten englisch und mit dem Vater holländisch. Kerstins Mann Emile van der Zée kommt aus den Niederlanden und arbeitet an der Universität Lincoln genau wie Kerstin im Fachbereich Psychologie.

    Die Psychologie boomt zur Zeit in England, sagt man, es gibt viel Zulauf von Studenten.

    Oberflächlich betrachtet läuft also alles großartig für die kleine Akademikerfamilie. Und die Engländer sind so nett, scheinbar.
    Doch nicht ganz zufällig ist Kerstins einzige Freundin in Lincoln Schwedin.

    Es gibt so bestimmte Dinge, die man nicht tun kann, zum Beispiel, wenn der Nachbar sagt; Ja, kommt doch mal auf ein Glas Wein vorbei. Als Deutscher kommt man dann mal mit einer Flasche Wein an. Und die Leute sind geplättet und wundern sich, dass man das so wörtlich genommen hat. Das ist sehr interessant, aber es ist auch so ein Faktor, der insgesamt das Leben hier sehr anstrengend macht. Es kostet Energie.

    Ein wirklich herzliches Verhältnis zu den Engländern werden Kerstin und Emile wohl nie entwickeln. Und so überlegen beide, ob sie nicht gemeinsam nach Deutschland umziehen wollen, bevor Tochter Zoé in die Schule kommt. Bloß wohin? In England ist es üblich, einem erfolgreichen Akademikerpaar zwei Stellen zugleich anzubieten. In Deutschland gibt es so etwas nicht. Schon das eine Stellenangebot für Kerstin am Max-Planck-Institut in München war ein Ausnahmetreffer. Aber damals, vor Zoes Geburt, war sie noch nicht bereit, in den sauren Apfel deutscher Universitätshierarchie zu beißen. Sie lehnte ab.

    Also kooperieren, mit Leuten kooperieren ist was anderes als für jemanden zu arbeiten. Ich bin hier komplett mein eigener Boss. Es guckt mir hier niemand auf die Finger. Und da wäre ich nicht so unabhängig gewesen wie hier.