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Fremder im eigenen Land

Jirí Weils Leben war immer wieder von extremen Bedrohungen heimgesucht: Als glühender junger Kommunist übersiedelte er 1933 nach Moskau, bereits ein Jahr später wurde er verbannt. 1935 konnte er nach Prag zurückkehren, doch unter der nationalsozialistischen Besatzung kann er als Jude sein Leben nur durch einen vorgetäuschten Selbstmord retten. Die Ermordung seines Volkes wird nach dem Krieg zum bestimmenden Thema seiner Arbeit.

Von Brigitte van Kann | 27.03.2008
    Zwei seiner Romane fanden auch in deutscher Übersetzung Beachtung: "Leben mit dem Stern", die Leidensgeschichte eines Prager Juden während der deutschen Besatzung und "Mendelssohn auf dem Dach", ein albtraumhaftes Kaleidoskop der Zustände im besetzten Prag.

    Jirí Weils Erzählungen hingegen waren dem deutschen Leser bislang unbekannt. Nun hat der kleine, aber feine Libelle Verlag eine gelungene Auswahl seiner kürzeren Prosa herausgebracht, meisterhaft übersetzt und mit einem aufschlussreichen Nachwort versehen von der Heidelberger Slawistin Bettina Kaibach. Der aufwändige Kommentar und die schöne Gestaltung machen die Edition geradezu vorbildlich.

    Thematisch und stilistisch ist der Bogen der hier versammelten Texte weit gespannt - vom nüchtern geschilderten Aufenthalt eines illegal reisenden Kommunisten am Neuruppiner See, dessen Annehmlichkeiten er ohne Bedauern in Richtung Sowjetunion verlässt, über ein Genrebild der trinkfesten Moskauer Avantgarde bis hin zu Weils Zyklus von Gedichten in Prosa, die während der Okkupation entstanden und die, wie der Autor in seiner Vorrede schrieb, "den lebenden und toten Freunden aus der Jahren der Erniedrigung und des Kampfs gewidmet" sind.

    In der Erzählung "Das Schaf aus Lidice" schildert Weil parabelhaft den Leidensweg eines Schafes, das mit seinen Artgenossen das SS-Massaker an der Dorfbevölkerung überlebt hat. Die Tiere werden nach Theresienstadt gebracht, wo man gefangene Mädchen zum Hüten abkommandiert. Die junge Valerie nimmt das Schaf liebevoll in ihre persönliche Obhut und Pflege. Zusammen mit den anderen Schafen fällt es einem Sauf- und Fressgelage von SS- und Gestapoleuten zum Opfer, beweint von seiner Hirtin, die am Tag darauf mit einem Transport in den Tod geschickt wird.

    Auch die titelgebende Geschichte "Sechs Tiger in Basel" kann man als Parabel lesen. In einer Basler Bierkneipe, in der es unangenehm deutsch zugeht, erkennt ein ebenso betrunkener wie verzweifelter Tierpfleger in dem Ich-Erzähler einen Landsmann und klagt ihm sein Leid: Der Dompteur eines tschechischen Zoos sei im Zuge einer Tournee in der Schweiz geblieben, mitsamt seinen Tigern, die er, der Tierpfleger, immer versorgt habe. Nun müssten die Tiere in der Fremde auftreten und der Dompteur spreche sogar deutsch mit ihnen. Sein Flehen, die Tiger nach Hause zu schicken, fruchte nichts. Es seien nun einmal keine bengalischen Tiger, wie die neuen Plakate behaupteten, sondern "tschechische Tiger, aus Böhmen gebürtig". Obwohl er den Dompteur hasst, geht der Tierpfleger nun jeden Tag zu seinen Tigern, um mit ihnen tschechisch zu sprechen und ihnen ein Stück Heimat zu ersetzen. So steckt in der Erzählung "Sechs Tiger in Basel" ein mit bitterem Humor gewürztes Gleichnis für die Fremdheit des Exils.

    Was die weit gefächerten Texte des Bands im Innersten zusammenhält, ist Jirí Weils eigenes, immer wieder von extremen Bedrohungen heimgesuchtes Leben. Angesichts seiner Biographie mutet es geradezu programmatisch an, dass er im Jahr 1900 zur Welt kam - alle Schrecken des 20. Jahrhunderts, die Katastrophen der beiden großen totalitären Systeme erfuhr er am eigenen Leibe: Als glühender junger Kommunist übersiedelte er 1933 nach Moskau, bereits ein Jahr später wurde er zur persona non grata erklärt, aus der Partei ausgeschlossen und nach Mittelasien deportiert. 1935 konnte er nach Prag zurückkehren. Das einschneidende Erlebnis dieser Ausgrenzung, ihren schleichenden Beginn und ihren finalen Vollzug beschrieb er 1937 in seinem Roman "Moskau - die Grenze", einem der ersten literarischen Zeugnisse der stalinistischen Säuberungen.

    Nur zwei Jahre vergehen, bis sich seine Lebensmöglichkeiten ein weiteres Mal dramatisch verengen - als Jude unter nationalsozialistischer Besatzung ist er ein Ausgestoßener, ein zunehmend Fremder im eigenen Land. Sein Leben rettet er durch einen vorgetäuschten Selbstmord. "Als er 1945 erschöpft und abgezehrt aus dem Untergrund auftaucht, ist von seiner Familie niemand mehr am Leben." schreibt Bettina Kaibach in ihrem Nachwort. Sie weist darauf hin, dass erst die deutschen Rassengesetze aus Weil einen bewussten Juden machten. Die Ermordung seines Volkes im sogenannten "Protektorat Böhmen und Mähren" wird nach dem Krieg zum bestimmenden Thema seiner Arbeit.

    Der vorliegende Band enthält auch Weils "Klagegesang für 77.297 Opfer" - das ist die genaue Zahl der jüdischen Bürger der Tschechoslowakei, die unter nationalsozialistischer Herrschaft ermordet wurden. Der "Klagegesang" verbindet biblische Texte mit der Wucht dokumentarischer Fakten, reportagehafte Elemente mit der Würdigung des Schicksals einzelner namentlich genannter Opfer. Neben Wassilij Grossmans "Eine Hölle mit Namen Treblinka" gehört dieser Text wohl zu den bleibenden literarisch-dokumentarischen Zeugnissen der Vernichtung der europäischen Juden.

    In der Nachkriegszeit steht Jirí Weil eine weitere existenzbedrohende, ja lebensbedrohliche Ausgrenzung bevor: Das kommunistische Regime der Tschechoslowakei, antisemitisch und moskautreu, erteilt ihm Publikationsverbot. Als er 1956 rehabilitiert wird, hat er noch drei Jahre zu leben, bevor er seiner Leukämie-Erkrankung erliegt.

    Im Vorwort der amerikanischen Ausgabe des "Lebens mit dem Stern" verglich Philip Roth seinen tschechischen Kollegen mit Isaak Babel. Mit ihm habe er die Gabe gemeinsam, "über Gräuel und Schmerz mit einer Knappheit zu schreiben, die ... ein denkbar grimmiger Kommentar ist zum Schlimmsten, was das Leben zu bieten hat."

    Jirí Weil. Sechs Tiger in Basel. Erzählungen.
    Ausgewählt von Urs Heftrich und Bettina Kaibach. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Bettina Kaibach. Kommentiert von Michael Špirit.
    Libelle Verlag, Konstanz 2008, 220 Seiten.