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Fremdes Kaliningrad

Nach dem vergangenheitspolitischen rollback der Breschnew-Zeit blieb Kant für die Kaliningrader zudem die einzige schmale Tür in die erneut strikt tabuisierte deutsche Vorkriegsgeschichte Königsbergs. Mehr noch: Das Kant-Museum der Universität, das im Jahre 1974 anlässlich des 250. Geburtstages des Königsberger Philosophen gegründet worden war, entwickelte sich unter seiner Leiterin Olga Krupina – der "Witwe Kants", wie sie bald liebevoll genannt wurde – im Laufe der Jahre zu einem Treffpunkt aufgeklärter Geister der Region. Mit schier unermüdlichem Enthusiasmus suchten sie nicht nur nach Zeugnissen über das Leben des Philosophen, sondern zunehmend auch nach Zeugnissen über die Stadt, in der er lebte.

Bert Hoppe |
    Die Kaliningrader Historiker konnten nicht zuletzt auf die Ergebnisse dieser Arbeit aufbauen, als sie sich nach dem Zerfall der Sowjetunion daran machten, die Vorkriegsgeschichte ihrer Heimatstadt und der Universität zu erforschen. So verfasste Kasimir Lawrynowicz zum 450. Geburtstag der Albertina eine umfassende Monographie über die einstige Wirkungsstätte Kants, die 1995 im Kaliningrader Buchverlag erschien und mittlerweile auch in deutscher Übersetzung vorliegt.

    Bis dahin war es allerdings ein weiter Weg: Erst mit dem Beginn von Glasnost und Perestrojka war es seit Mitte der 80er Jahre möglich, die Verbindung zwischen Kant und Königsberg offen zu thematisieren. Schrittweise ist Kant seitdem auch in den Alltag der Kaliningrader eingedrungen – er ist einer von ihnen geworden. Für Hochzeitspaare gehört es mittlerweile zur Tradition, nach der Trauung nicht nur gemäß sowjetischer Sitte das Ehrenmal für die Gefallenen des "Großen Vaterländischen Krieges" aufzusuchen, sondern auch am Kant-Mausoleum Blumen niederzulegen: Die einst erbitterte Konkurrenz der Erinnerungsorte hat sich aufgelöst.

    Doch was bedeutet Kant den heutigen Kaliningradern über die Tatsache hinaus, dass er gewissermaßen zum zentralen Lokalhelden und staatstragenden Ehrenbürger des Gebietes geworden ist? Angesichts der Unsicherheit über die Zukunft der bald vollständig von der Europäischen Union umgebenen Region, symbolisiert Kant für viele Kaliningrader heute mehr denn je die Hoffnung, Anschluss an den Westen zu finden: Die insulare Not wird unter Bezug auf Kant zu einer Tugend. Und tatsächlich gibt es wohl keinen anderen Platz, an dem Russland und Westeuropa sich so nahekommen, gibt es keine Region, wo so viele Russen die Gelegenheit haben, die westliche Gesellschaft aus der Nähe zu erleben, die für die meisten ihrer Landsleute im russischen Kernland unerreichbar fernliegt. Insofern ist Kaliningrad-Königsberg wieder – um mit den Worten Kants zu sprechen – zu einem "schicklichen Platz zu[r] Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis" geworden.

    Bert Hoppe über Kant in Kaliningrad. Der erwähnte Beitrag "Austreibung des preußischen Geistes" von Jurij Kostjashov wurde veröffentlicht in der Reihe Terra Baltica, Band 3, Kaliningrad 2003. Und das Werk "Albertina. Zur Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen" aus der Feder von Kasimir Lawrynowicz erschien in deutscher Übersetzung bei Duncker & Humblot in Berlin 1999.

    Kasimir Lawrynowicz
    Albertina. Zur Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen
    Duncker & Humblot, 519 S., DM 98.00

    Jurij Kostjashov
    " Austreibung des preußischen Geistes. Die Entwicklung des historischen Bewußtseins der Bevölkerung im Kaliningrader Gebiet, in:
    Terra Baltica , Bd. 3, Kaliningrad 2003, S. 7 - 80.