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Fremdes Land

Ein nicht ganz kleiner Teil der Weltliteratur ist Literatur übers Reisen, man denke nur an die sagenhaften Irrfahrten des Odysseus. Dem heutigen abendländischen Intellektuellen gibt das Reisen die Gelegenheit, über Dichotomien wie das Eigene und das Fremde oder über Tradition und Moderne zu reflektieren. Und überhaupt ist ja das Reisen eine Metapher fürs Leben, und daher tauchen auch die großen Sinnfragen wie "wer bin ich und warum lebe ich" in Reiseberichten immer wieder auf.

Von Sabine Peters | 25.06.2004
    Michael Kleeberg, Jahrgang 1959, hat soeben ein "libanesisches Reisetagebuch" veröffentlicht. Kleeberg gehört zu den sogenannten "realistischen" Erzählern, wenn man den Begriff nicht zu eng fasst - und seine zahlreichen bisher veröffentlichten Romane und Erzählungen fallen durch ihre Stilsicherheit und durch eine meist gelungene Balance zwischen Entschiedenheit und Leichtigkeit auf. Ein Autor, der seine Stoffe buchstäblich beherrscht; ein Autor, der seinerseits in beherrschtem, immer ein wenig distanziertem Ton von seinen Helden berichtet, ob es sich nun um zwei so ganz verschiedene Gestalten wie Proteus den Pilger oder um den sagenhaften Kommunist von Montmartre handelt.

    Michael Kleeberg war Anfang 2003 im Rahmen der literarischen Begegnungsreihe "west-östlicher Diwan" des Berliner Wissenschaftskollegs vier Wochen zu Gast in Beirut. Hatte er selbst zuvor den libanesischen Lyriker und Feuilletonchef einer Tageszeitung, Abbas Beydoun, durch Berlin geführt, so half umgekehrt jetzt Abbas Beydoun Kleeberg dabei, Einblicke in das alltägliche, kulturelle und politische Leben Beiruts zu gewinnen. Kleebergs Reisebericht mit dem Titel "das Tier, das weint", einem Titel also, der auf den Menschen hinweist, diesem Reisebericht ist ein Satz vorangestellt, der betont, Kleeberg habe nicht den Anspruch, Unbekanntes oder Relevantes mitzuteilen - vielleicht muss ein Autor sich so etwas notieren, um es angesichts der Fülle journalistischer Berichte aus aller Welt und angesichts der Kürze seiner eigenen Reise überhaupt zu wagen, sich ans Schreiben zu machen.

    Also: Was erfährt man bei Kleeberg? Man liest, das ist klar, viel von dem, was man als tatsächlicher Nahostreisender oder als Pantoffelreisender vor dem Bildschirm selbst schon zu kennen meint: "Orientalische" Buntheit der Märkte, räudige Katzen, chaotischer Verkehr, das Spiel von Licht und Schatten, das verwirrende Nebeneinander von Heiligem und Profanem, von Jahrtausende alter Kultur und zeitgenössischen Errungenschaften wie der Satellitenschüssel. Man liest von den - inzwischen durchaus nicht mehr unbedingt typischen - Skrupeln eines Intellektuellen sich selbst und der eigenen Wahrnehmung gegenüber. Man findet Passagen, in denen die Nahostproblematik diskutiert wird, oder die Frage der Nationalliteraturen; selbstverständlich geht es auch um die Weltreligionen, um Terrorismus, um Identität. Was das Buch ausgesprochen lesenswert macht, ist die Sensibilität, mit der dieser Autor einen Zugang sucht und offenbar auch findet.

    Einen Zugang zum "Fremden" wie zum "Eigenen", denn Kleeberg beschreibt nicht nur seine Sinneseindrücke und Erlebnisse, sondern in seinen Text fließen, angenehm unaufdringlich, auch die Reflexionen eines nüchtern-skeptischen kritischen und selbstkritischen Abendländers ein. Kleeberg, der sich in einer Passage sehr nachvollziehbar über Kollegen ärgert, die einem staunenswerten Natureindruck nur mit Witzen zuleibe rücken, fordert und praktiziert das, was er ganz spröde und ganz emphatisch "arbeiten" nennt: Autoren sollen analysieren, was sie beeindruckt, sie sollen hingehen zum Fels, zum Autogerippe oder was immer es ist, sie sollen die Dinge anfassen, ihre Beschaffenheit erkunden, Worte für sie suchen, sie nennen - sie sollen "arbeiten". Dieses Tagebuch ist seinerseits ein bewundernswert durchgearbeiteter Text. Kleeberg findet Vergleiche, die immer anregend und bedenkenswert sind, wie den, im Klima des Mittelmeerraums anzukommen sei für ihn wie der Wechsel vom Filzkleid in ein Seidengewand. Das Interesse des Autors an den Leuten, an den Dingen ist uneitel und führt zu äußerst detailgenauen, präzisen Beschreibungen, die im besten Fall - als eine Form des Aufrufens, des Evozierens - poetische Kraft gewinnen.

    Interessant ist die Erfahrungslücke, die Kleeberg selbst nennt: Er erlebte keine massive Nicht-Verständigung, bewegte sich nicht durch die verschriensten Slums - er war nahezu nicht mit Nicht-Intellektuellen zusammen - wobei er den Kollegen Abbas allerdings auch nicht in ein deutsches Asylantenheim führte oder ein Treffen mit NPD-Leuten organisierte. Dem Autor diese "Erfahrungslücke" vorzuhalten, wäre falsch: Der Vorstellung, im Verlauf einer Reise sämtliche wirklich fremde Räume und Segmente abhaken zu können, liegt ein Weltbild zugrunde, das ebendiese Welt als verfügbare Ware und Touristenatrraktion annimmt, und das ist Kleebergs Sache nicht. Seine Beoabachtung, sich mit Kollegen aus einer anderen Kultur überhaupt verständigen zu können und Gespräche zu führen, wie er sie auch andernorts in anderer Variation führt, setzt eine bewegende, schöne Erinnerung frei, eine Art Portrait von Abbas. Dieses "Portrait", heißt es, symbolisiere all das, was Kleeberg am Intellektuellen, am "geistigen Menschen" so liebe: Der Kollege Abbas steht in Socken und auf Zehenspitzen auf einem wackligen Drehstuhl vor seinem Bücherregal, mit kurzsichtigen Augen sucht er nach genau dem Buch, in dem der eine entscheidende Satz steht, der jetzt gerade zum Gespräch passt - und bis Abbas das Buch und den Satz gefunden haben wird, steht die Zeit still.
    Es gibt eine Fülle von solchen kleinen großen Szenen, und das, was einen daran erstaunt und erfreut, ist vielleicht auch: Hier werden ganz persönliche Eindrücke und Empfindungen geschildert, die gleichzeitig das Potential zur Verallgemeinerung haben; Eindrücke und Empfindungen, die also beides sind: Ganz spezifisch und ganz exemplarisch.

    Wenn also Kleeberg über diese Reise in den Libanon auch auf die großen Sinnfragen kommt, das heißt auf ästhetische und ethische Fragen, dann fällt einem dazu kein Spott ein. Der beherrschte, klar und sicher dahinfließende Tonfall gerät kurzzeitig ins Stocken, es geht gewissermaßen ein Ruck durch den Text. Und daher nimmt man dem Autor sogar diese sacht formulierten, stockend gestellten großen Sinnfragen ab, und man akzeptiert auch die einzelnen Passagen, die emphatisch werden. So wie Kleeberg sein libanesisches Tagebuch entwickelt, kann er sogar einmal das Wort "Seeleneindruck" benutzen, ohne daß man es als peinigend empfindet. Im übrigen gibt es hier mitunter auch einen angenehm spröden Witz; kurzum: Dieses libanesische Reisetagebuch vermittelt einem, so konzentriert es daherkommt, eine Fülle von Eindrücken, Stimmungen und Reflexionen aus einem unweigerlich beschädigten, aber momentweise auch beglücktem Leben.

    Michael Kleeberg
    Das Tier, das weint. Libanesisches Reisetagebuch
    DVA, 176 S., EUR 17,90