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Fremdheit des Lebens

Peter Handke hat einmal in einem Gedenkblatt die Frage gestellt, warum denn über die Gedichte seines toten Freundes Nicolas Born nicht ebenso viel begeistertes Geschrei herrsche wie über die Lyrik des für seine Radikalität bewunderten Rolf Dieter Brinkmann. Wie berechtigt diese Frage noch immer ist, bewiesen im vergangenen Jahr die Autoren einer viel diskutierten Lyrik-Anthologie, die in devoten Reminiszenzen den wilden Poeten Brinkmann hochleben ließen, während sie den lyrisch komplexeren Nicolas Born offenbar gründlich vergessen hatten. Das mag daran liegen, dass die bei Brinkmann üblichen schrillen Feinderklärungen in den Werken des mit 42 Jahren gestorbenen Alltagsrealisten vom Niederrhein nicht zu finden sind. Nicolas Borns skeptische Utopien und melancholisch-hellsichtige Erkundungen seiner Lebenswelt sind ästhetisch sehr viel schwerer fassbar.

Von Michael Braun | 07.12.2004
    Die stillen Provokationen dieses Dichters leben von der Verhaltenheit seiner poetischen Gestik, von präzisen Momentaufnahmen des Alltags und der genauen Beobachtung eines zunehmend bedrohlichen Weltzustands. Als er im Nachwort zu seinem 1972 publizierten Band "Das Auge des Entdeckers" den Begriff der Utopie ins Spiel brachte, standen gleich die linken Freunde Spalier, um ihn ins systemkritische Milieu einzugemeinden. Dabei hatte sich Born ausdrücklich von einer Literatur abgesetzt, die nur auf "die Misere abonniert" ist. "Jeder", so schrieb Born damals, "ist eine gefährliche Utopie, wenn er seine Wünsche, Sehnsüchte, Imaginationen wiederentdeckt unter dem eingepaukten Wirklichkeitskatalog."

    Die kritische Ausgabe mit sämtlichen Gedichten Nicolas Borns, die soeben im Göttinger Wallstein Verlag erschienen ist, hat nun den längst fälligen Versuch unternommen, mit einigen Legendenbildungen um den vor 25 Jahren gestorbenen Dichter aufzuräumen. Die entscheidende Prägung empfing der junge Born nämlich nicht, wie bislang kolportiert wurde, von seinen kulturrevolutionär gestimmten Berliner Freunden Hans-Christoph Buch und Hermann Peter Piwitt, sondern von dem Dichter Ernst Meister, mit dem er 1959 in Kontakt gekommen war. Der Ehefrau Ernst Meisters verdankt Born auch den Einfall, sich den Künstlernamen Nicolas zuzulegen. So steht auch die um 1960 konzipierte, aber nie veröffentlichte Gedichtsammlung "Echolandschaft" noch ganz im Bann von Meisters Sprachmagie.

    Zu den größten Verdiensten dieser kritischen Ausgabe gehört die Neuakzentuierung des Born-Bildes, das bislang Hans-Christoph Buch und Hermann Peter Piwitt mit ihren biographischen Skizzen geformt hatten. Die Herausgeberin der Ausgabe, die Born-Tochter Katharina, entdeckt in ihrer sorgsamen Rekonstruktion der Lebensgeschichte Nicolas Borns viele neue Facetten im Leben ihres Vaters. Hier werden auch erstmals die Gedichte aus dem Nachlass veröffentlicht, die man nach einem verheerenden Brand in Borns Haus im Jahr 1976 vernichtet glaubte. Die dokumentierten Arbeitsprozesse an einzelnen Gedichten zeigen einen Autor am Werk, der die scheinbare Leichtigkeit und Beiläufigkeit seiner Gedichte in strenger formaler Selbstdisziplinierung hergestellt hat.

    Was man später "Neue Subjektivität" genannt hat - in diesen Gedichten ist es am differenziertesten entwickelt: Ein instabiles, unruhiges Ich, das sich neugierig in die Welt hinein tastet und nach verlässlichen Orientierungen sucht. Nicht immer gelingt es Born, dieses Ich von bräsigen Exhibitionismen freizuhalten. Wenn sein lyrisches Subjekt lamentiert: "Und wieder sitze ich im Suff am frühen Morgen" - so ist das ein Vorbote der später epidemisch werdenden Geschwätzigkeit der Alltagslyrik. Konzentrierter wirken die frühen Gedichte in dem Band "Marktlage" von 1967, in dem der Dichter auf die ihm vertraute Lebenswelt und die Menschen des Reviers blickt.

    Er weigere sich, schrieb Born in einem Brief an Günter Kunert, sich von den herrschenden Identitäts-Konstruktionen einfangen zu lassen. Er wolle lieber ohne Identität sein und "zusammengesetzt sich fühlen aus lauter sich gegenseitig abstoßenden Fremdorganen." Dieses Bewusstsein des Ich-Verlusts hat ihn in den späten Gedichten fast erstickt. Ein Vierteljahrhundert nach seinem Krebstod im Dezember 1979 wird nun ein Dichter wieder entdeckt, der die Fremdheit des Lebens und den Zusammenbruch der Utopien in unvergesslichen Versen fixiert hat: "Mit uns macht die Geschichte Schluss. / Am genauesten sieht man sie wenn der Zug / langsam entlangfährt an den Rückseiten der Städte / Lagerhallen Höfe, die Kehrseite der Wäsche/ und der Blumenfenster/ die erdabgewandte Seite der Geschichte."

    Nicolas Born: Gedichte. Herausgegeben von Katharina Born. Wallstein Verlag, 664 Seiten, Euro 34.-