Archiv


Fremdheit und Fanatismus

Zum Spielzeitauftakt am Bayerischen Staatsschauspiel in München inszenierte der Hausherr selbst, Dieter Dorn, im Residenztheater "Die Bakchen" von Euripides und damit die großen Fragen der Zeit: Euripides' Klassiker thematisiert den religiösen Fanatismus, dessen Herausforderung für ein Staatswesen und die Frage, wie das "Fremde" zu integrieren sei.

Von Cornelie Ueding |
    405 v. Chr.- ein aufwühlendes, schockierendes Stück geht über die Bühne: in die gesicherte Welt der Polis bricht das Fremde, Irrationale, bricht der Terror ein. Rasende Bacchantinnen zerreißen den Herrscher, der sich ihnen entgegenstellt, in Stücke, die Mutter zerfleischt im Wahn den eigenen Sohn und feiert ihren Irrsinn auf offener Szene als Triumph.

    2005 n. Chr., 2400 Jahre später, steht dieses irrwitzige, irrlichternde Stück zwar immer noch auf dem Spielplan, doch - so hat man zumindest nach dieser gefassten Münchner Inszenierung den Eindruck - es hat nahezu sein gesamtes provokatives, eigentlich aberwitziges Potenzial verloren. Dieter Dorn jedenfalls gelingt die nahezu perfekte Verwandlung von Theater-Fleisch in Bühnen-Wort, so dass es bei der Premiere nicht selten Szenenapplaus wie nach besonders gelungenen Arien gab. Dabei kann man der Aufführung nicht den Vorwurf machen, sie wäre dramaturgisch ausgenüchtert oder spare mit szenischen Effekten.

    Am Ende werden sogar säckeweise blutige Körperfetzen, die Einzelteile des unter die Furien geratenen jungen Königs Pentheus vor der wahnsinnigen Agaue auf den Boden geklatscht und ausgepackt - ohne dass dies mehr als leicht angewidertes leises Kichern auslösen würde. Von den brillanten Akteuren ganz abgesehen: allen voran Gisela Stein als eiskalt-knallhart motorische Bakchenführerin, Sibylle Canonica als dumpf unterdrückt aufheulende Agaue, Rolf Boysen als der gnadenlos Anerkennung fordernde neue Gott Dionysos, ein genial tückisch lockender und zugleich irritierender Verführer und Provokateur - und Helmut Stange als der entsetze Bote, der gesehen hat, was er nicht sehen durfte. Nicht auszudenken, was aus Dorns Regiekonzept ohne diese großen Schauspieler geworden wäre. Dabei ist dieses schauderhafte zweieinhalbtausend Jahre alte Stück wie kaum ein zweites geeignet, eine Schwachstelle nicht nur der attischen Polis, sondern jedes demokratischen Systems zu beleuchten: ihr dürrer Rationalismus, ihre relative Affektfreiheit, die Emotionen und Triebe in Therapiestunden auslagert, ihre Unfähigkeit, mit rabiat- gewalttätigen Bewegungen angemessen umzugehen. Aber das hat Dorn leider nicht gezeigt, sondern deklamatorisch-statisch reproduziert.

    Selbst die Jüngerinnen des neuen Kults dürfen ihre Besessenheit nur in rhythmischem Klopfen ausagieren.

    Anfangs mag Pentheus glauben, der neue Dionysos-Kult, der nicht nur Frauen (darunter eben die eigene Mutter) affiziert, sondern bereits mit Kadmos und Teiresias gestandene Polismänner in seinen Bann gezogen hat, wäre nur ein Spuk, dem mit ein paar routinemäßigen staatlichen Maßnahmen leicht beizukommen ist. Entsprechend nassforsch - süffisant lässt Dorn den Jungpolitiker denn auch zu Beginn auftreten.

    Eine Attitüde, die, je länger sie anhält, nicht nur zur Falle für Pentheus persönlich, sondern darüber hinaus für die gesamte Aufführung zu werden droht. Denn der juvenil überhebliche Polis- Repräsentant stellt keinerlei ernsthaftes Gegengewicht zu dem diabolisch-schlauen, bisweilen sogar als ein wenig rührend zottiger Guru auftretenden Dionysos-Heilsbringer dar. Der zieht die ebenso arrogante wie ungefestigte Herrscherpuppe nach allen Regeln der Kunst in dieses Gott-Spielen als Machtspiel hinein und manipuliert ihn, als er selber in der Position des Schwächeren zu sein scheint, soweit, dass sich Pentheus auf den tödlichen Wahnsinn einlässt: als Frau verkleidet zum Voyeur der Dionysyen zu werden. Man mag die latent bisexuelle Komponente für klug, den Transvestiten Pentheus sogar für virtuos halten - die Fallhöhe, die dieses böse Manipulationsspiel braucht, wird man vermissen. Wie hier aus Recht Unrecht, aus Unrecht Recht gemacht wird, wie Gott und die Welt beliebig inszeniert werden, um Rache am System zu nehmen; und wie wehrlos und arglos solche Systeme verharren, ja glauben mitspielen zu können - das hätte das Ziel einer - ohne Aktualisierungsmätzchen brisant aktuellen - theatralischen Analyse sein können und wohl auch sollen. Läge doch die Kraft nicht nur des antiken Theaters darin, dass es an scheinbar noch so fernen Stoffen Probleme durchspielt, die sich uns stellen. Heute. In der Lebensrealität.