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Fremdheit und Vertrautheit zugleich

Michael Roes erzählt die unglückliche Freundschaftsgeschichte zweier unterschiedlicher Männer, die zwischen Alters-, Mentalitäts- und Kulturunterschieden zerrieben werden. Nebenbei erhält der Leser ein Algerienporträt.

Von Claudia Kramatschek | 27.10.2010
    "Ich wünschte, wir säßen schon im Flugzeug, zehntausend Meter über dieser verfluchten Erde. Jeden Augenblick rechne ich damit, Achmed oder Slimane hier in der Abflughalle auftauchen zu sehen. Wie hoch ist die Strafe für Kindesentführung in diesem Land?"

    Algerien im Jahr 2007: Voller Unruhe wartet Matthias, ein deutscher Algerienreisender und der Ich-Erzähler in Michael Roes’ neuem Roman, am Flughafen von Algier darauf, endlich im Flugzeug nach Berlin zu sitzen. Rund sieben Jahre zuvor kam er so neugierig wie unbedarft das erste Mal nach Algerien, das damals noch immer vom grausamen Terror des zu Ende gegangenen Bürgerkriegs geprägt war. Nun aber hält Matthias ein Kind an seiner Hand. Es ist der kleine Milan – den er und sein algerischer Freund Yanis in den vergangenen Jahren in Berlin gemeinsam groß gezogen haben. Yanis, ein junger Mann aus der Kabylei, war gemeinsam mit Milan erst kurz zuvor nach Algerien zurückgekehrt, um seine Familie zu besuchen. Dort aber wird er – im Auftrag des Vaters – von seinem ältesten Bruder getötet. Mit seiner Beziehung zu Matthias und der Existenz von Milan habe er Schande über die Familie gebracht.

    Mit dieser Szene am Flughafen beginnt und endet der Roman – ein sehr persönlicher Roman, in dem sich Michael Roes’ eigene Geschichte mit Algerien widerspiegelt. Michael Roes:

    "Matthias ist natürlich in gewisser Weise ein Double, eine Maske des Autors. Ich hatte ungefähr in demselben Zeitraum einen Ort zum Schreiben gesucht, ohne tatsächlich genau zu wissen, wie die politische Situation genau ist. . Es war tatsächlich in dieser Zeit ein Land, vor dem man Angst haben musste. Und ich habe einen ähnlichen Prozess wie Matthias durchlaufen: Einerseits war ich erschrocken von der Grausamkeit, mit der die Menschen dort miteinander umgehen. Und gleichzeitig habe ich sehr intensive Beziehungen dort aufgebaut, so dass ich nicht einfach wieder fahren konnte und sagen konnte, das geht mich alles nichts an. Ich bin sehr, sehr oft dann nach Algerien zurückgekommen in den folgenden Jahren, obwohl ich mich eigentlich nie wirklich entspannt dort gefühlt habe. Und diese Spannung zwischen mir und Algerien, das war jetzt eigentlich das Thema in diesem letzten Roman "Geschichte der Freundschaft."

    Im Mittelpunkt steht dabei die emotional wie kulturell so schwierige Beziehung zweier Männer, die nicht gegensätzlicher sein könnten, da sie aus völlig verschiedenen Welten stammen. "Geschichte der Freundschaft" verhandelt somit ein Thema, eine Frage, der Michael Roes sich mehr oder weniger in all seinen Büchern stellt: "Wie es möglich ist, dem Fremden zu begegnen, ohne ihn seiner Fremdheit zu berauben. Dass solch eine Begegnung möglich sei, hat Roes bis dato immer bejaht. Mit dem neuen Roman aber stellt er genau das zum ersten Mal leise in Frage. Michael Roes:

    '"''Ich war früher optimistischer, was das gemeinsame interkulturelle Verstehen, Zusammenleben angeht und vielleicht auch naiver. In der Theorie oder in der Empathie ist das relativ einfach – im Alltag ist es ungeheuer schwer. Die wirkliche Tiefendimension, was Verständigung und Zusammenleben bedeutet, begreift man erst in dem Augenblick, wo es stattfindet. Und da gehen Differenzen so tief, weit in die Kindheit zurück, die gar nicht einholbar sind. Die man entweder aushält und akzeptiert – oder an denen man scheitert. Aber die nicht einfach wegzutherapieren sind oder wegzuerklären, weg zu sprechen.""

    Von genau diesen Grenzen handelt der Roman, vom Scheitern wider besseres Wissen und wider das eigene Wünschen und Wollen. Konsequent hat Roes daher auch die frühere Mehrstimmigkeit, die formale Verschränkung von Eigenem und Anderem durch die Einseitigkeit des Blicks ersetzt. "Geschichte der Freundschaft" ist mehr oder weniger aus der Sicht von Matthias erzählt, und damit aus der Sicht des Europäers. Anfang 2000 lernen sich beide in der von Unruhen und Demonstrationen heimgesuchten Kabylei kennen – Matthias, der gestandene Arzt und Pathologe aus dem Westen; Yanis, der wesentlich jüngere Mann und Student, der den Dolmetscher spielt für den fremden Besucher.

    "Er ist der Sohn eines Maurers, erfahre ich im Gespräch, studiert in Bejaja Englisch und Philosophie und will Journalist oder Lehrer werden. Er trägt das Haar militärisch kurz. Er hat den durchtrainierten Körper eines Kampftauchers und ist in den letzten Sommern, als noch Gäste aus Tichy kamen, als Rettungsschwimmer am Strand eingesetzt worden. Seine Hände sind schwielig und zernarbt. Vor allem, weil er in seiner freien Zeit seinem Vater zur Hand zu gehen hat."

    Über Umwege – die den Leser auf eine Reise durch die Sahara führen, die Erinnerungen an Roes’ früheren Roman "Weg nach Timimoun" wachruft – bringt Matthias Yanis nach Berlin. Denn Yanis wird in Algerien von den Behörden gesucht – er soll einen Polizisten getötet haben. Doch in Berlin – im Roman als "Stadt des Glücks" apostrophiert – fangen die Probleme zwischen den beiden Männern erst an. Matthias Roes:

    "Zwischen Matthias und Yanis im Roman ist es z.B. dieser immense Druck, den die westliche Kultur auf alle ihre Mitglieder ausübt, den wir, die da hinein geboren sind, gar nicht wahrnehmen. Aber die Selbstverständlichkeit, mit der die Dinge schnell, präzise, sorgfältig funktionieren, ist ein Teil unserer Kultur und in anderen Kulturen ist das vollkommen unverständlich. Man spürt das erst, wenn Angehörige der anderen Kultur hier sind und im Alltag, in jedem Detail vollkommen überfordert sind."

    Roes dekliniert die vielen Schichten dieser Überforderung überzeugend durch, bis in die kleinsten Winkel des alltäglichen Zusammenlebens: Aufräumen, Kochen, Essen, Aufstehen, Termine einhalten, Verpflichtungen eingehen. Tatsächlich hat Matthias bald mehr denn je das Gefühl, einen Fremden neben sich zu haben, der mit jeder Faser seines Körpers selbst auf die Fremdheit reagiert.

    #'"Ihm fehlt das richtige Maß für den Zugriff und jede Anmut im Umgang. Er bekleckert sich mit Kaffee und Eigelb am Frühstückstisch und hinterlässt nach einer versuchten Rasur im Bad ein Schlachtfeld aus Bartstoppeln, Hautfetzen und Blut. Er schneidet sich auf meinem bordeauxroten Sofa die Zehennägel, reinigt sich nach dem Stuhlgang mit meinem Badeschwamm über dem Wannenrand. Und wo ist die Schlagfertigkeit seines Denkens geblieben? Plötzlich begegnet mir dieselbe Verlangsamung und Plumpheit im Sprechen wie in den motorischen Bewegungen."

    Yanis wiederum ist gelähmt von der vermeintlichen Freiheit, die sich ihm bietet, da er sein Leben lang keine Wahl hatte. Und dann sind da noch die unterschiedlichen Erwartungen, die beide an diese Freundschaft hegen. Denn Matthias fühlt Liebe – ob aber Yanis, der sich in Affären mit Frauen stürzt, diese Gefühle erwidert oder überhaupt erwidern kann, lässt Roes bewusst offen. Matthias Roes:

    "Da sind wir mittendrin in den Tiefen des Konflikts: Wie sieht das die eine und wie sieht das die andere Kultur? Beide haben offenbar ein ganz anderes und am Ende auch unüberbrückbares Bild von der Beziehung. Und es geht dann auch nicht über Begriffe, das zu klären, denn Freundschaft, Liebe, sind kulturelle Begriffe, die im kulturellen Kontext jeweils etwas ganz eigenes bedeuten. Also ... beruht diese Freundschaft oder auch die Liebe auf Missverständnissen, die auch bis zu einer gewissen Grenze nicht klärbar sind."

    Ob es unter diesen Umständen ein realistisches Szenario ist, dass Yanis und Matthias gemeinsam das Kind groß ziehen, das aus einer von Yanis zahlreichen Affären stammt, bleibt dem einzelnen Leser überlassen. Entscheidend ist: Ihre Freundschaft scheitert – und sie findet, in Form eines wahren Showdowns, ein tragisches Ende. Roes, der seinen Protagonisten tagebuchartig und in einer so verknappten wie zugleich bildhaft beschreibenden Sprache immer nah am konkreten Detail erzählen lässt, bündelt in diesem Ende zugleich auch den kenntnisreichen Einblick, den er seinen Lesern in die gesellschaftlichen Strukturen Algeriens ermöglicht: hier die Übermacht der Väter – dort die Opferrolle der Söhne, die im schlimmsten Falle tatsächlich zum Sohnesopfer werden. Matthias Roes:

    "Die Rolle des Vaters ist so ungeheuer dominant, dass man ihn eigentlich nie wirklich überwinden kann. Selbst erwachsene Männer in Algerien, zumindest in den traditionellen Gebieten, und das ist einfach auch noch der größte Teil des Landes, senken ihren Blick, wenn sie mit dem Vater sprechen, widersprechen nicht, ... manche werden von ihren Vätern auch geschlagen, Und das ist egal, ob sie selber schon Väter sind oder erwachsen sind – solange der Vater da ist, bleibt er die entscheidende Figur."

    Auch Yanis wird sich vom Gesetz des Vaters nicht lösen können. Im Gegenteil: Seinen Ausflug in die vermeintliche Befreiung bezahlt er mit dem eigenen Leben. "Geschichte der Freundschaft" endet insofern erstaunlich unversöhnlich – würde Roes dieses Scheitern nicht zugleich auf einer weiteren Erzählebene beleuchten. Durchgängig nämlich verschränkt er den Verlauf der Handlung mit Exkursen in die Begriffsgeschichte der Freundschaft. Philosophen wie Foucault oder Bataille spielen dabei ebenso eine Rolle wie Elemente aus der westlichen Popkultur oder den griechischen Mythen. Das ist mehr als nur formale Spielerei: Denn was in der Praxis scheitert, wird hier als Utopie zumindest im Moment des Denkens möglich: die Freundschaft als ein Ort jenseits der gesellschaftlichen Machtbeziehungen. Den Zweifel aber über die Lebbarkeit der Utopie auf solch poetische wie erkenntnisreiche Weise zu formulieren ist die große, vielleicht die größte Geste dieses so klugen wie erfahrungsgesättigten Romans.

    Michael Roes: Geschichte der Freundschaft, Matthes & Seitz Verlag, Berlin