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Freude und Furcht vor einem möglichen Wiedererstarken

Es gehört zu den politischen Urerfahrungen Polens, dass Teilungen nicht von Dauer sind – und doch weckte die deutsche Einheit in Polen wieder alte Ängste vor dem übermächtigen Nachbarn im Westen.

Von Jan Pallokat | 30.09.2010
    Piotr war 14, als das geteilte Deutschland daran ging, sich zu vereinigen.

    "Ich erinnere mich an den Gesellschaftskunde-Unterricht, in der siebten oder achten Klasse muss das gewesen sein. Ich fragte den Lehrer, was er davon hält. Er war damals etwa 50 und machte sich große Sorgen. Er fürchte die Macht und Größe eines wiedervereinigten Deutschlands. Dabei ging es nicht nur um die Geschichte. Es taten sich ja auch zwei große Volkswirtschaften zusammen, denn die DDR hatte ja innerhalb des sozialistischen Lagers wirtschaftliches Gewicht."

    So dürften sich vor 20 Jahren viele Polen gefühlt haben: In die Freude vieler darüber, dass das verhasste kommunistische Zwangssystem verschwand, mischte sich auch etwas Furcht über die Wiedervereinigung, ein mögliches Wiedererstarken Deutschlands, dem alten, oft übermächtigen Angstgegner im Westen. Der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski erinnert sich:

    "Ich war wohl nicht der einzige in Europa und bestimmt nicht der einzige Pole, der neben der Freude über den Zusammenbruch des Kommunismus’ gemischte Gefühle hatte, wenn es um die Wiedervereinigung Deutschlands ging. Bestimmt haben viele von uns gedacht, dass Deutschland wieder das mächtigste Land Europas wird und wer weiß, wie das für uns enden wird."

    Dennoch gehörte Polen nicht zu den größten Bremsern der Entwicklung in Europa. Denn stärker als die Furcht vor einem neu erstarkten Deutschland war der eigene Freiheitsdrang. Und dem stand der sowjetische Einfluss im Ostteil Europas im Wege: Die Truppen der Roten Armee hielten ja nicht nur Deutschlands Spaltung aufrecht, sondern auch Polen unter Moskauer Kuratel. Der ersten halbwegs frei gewählten Regierung Mazowiecki war somit schnell klar, dass es ein wirklich freies Polen nur um den Preis eines freien, wiedervereinten Deutschlands geben werde. So stellt es jedenfalls Jerzy Kranz dar, der seinerzeit als Diplomat im Hintergrund mitwirkte.

    "Das war das Hauptziel der polnischen Diplomatie: Neue Einflusszonen zu verhindern. Und ich glaube, das ist gelungen."

    Deutschland als Ganzes in EU und NATO zu wissen, würde den Riesen zähmen, glaubte demnach Mazowiecki. Der Rest lief ganz im polnischen Interesse: Obwohl Warschau an den Zwei-plus-Vier-Gesprächen zur deutschen Wiedervereinigung anfangs nicht direkt beteiligt war, wurde die endgültige Anerkennung der polnischen Westgrenze dort vorformuliert. Zwar blieben einige heikle Themen ungeklärt, deutsche Kulturgüter in Polen etwa oder mögliche Vermögensansprüche der Vertriebener, was bis heute immer mal wieder für Unruhe sorgt. Doch weil keine deutsche Regierung diese Themen seither offensiv in Stellung brachte, wuchs allmählich Vertrauen, und gerade viele gebildete Polen aus den großen Städten schätzen den Nachbarn inzwischen, so wie der Chemiker Krzystof, 55:

    "Dass die Deutschen damals die Gelegenheit genutzt haben, gereichte uns allen in Europa zum Vorteil. Denn von einem starken Deutschland und einer starken deutschen Wirtschaft profitieren wir doch alle. Deutschland hat eine sehr gut organisierte Industrie auf hohem Niveau, das wirkt sich auf die Nachbarn aus: Es ist gut, wenn Deutschland stark ist."

    Und Piotr, jener damals 14-jährige Schüler, dessen Sozialkundelehrer ihn einst vor dem wiedervereinigten Deutschland warnte, meint heute, 20 Jahre später:

    "Bestimmte Ängste von damals erwiesen sich zum Glück als nicht begründet. Wir haben jetzt ein gemeinsames Europa, wir sind befreundet, ich denke, unsere Beziehungen gestalten sich positiv – wir können uns gemeinsam entwickeln und an eine bessere Zukunft denken."

    Außenminister Sikorski, den wie vorhin gehört vor 20 Jahren doch einige mulmige Gefühle beschlichen beim Blick über die Oder, stellt Deutschland heute ein ausgesprochen gutes Zeugnis aus:

    "Nach 20 Jahren kann man glaube ich sagen - bisher ist das alles ziemlich gut gegangen. Bisher hat sich Deutschland als solider europäischer Partner erwiesen, der auf Grund seiner Werte und seiner Demokratie in vielen Bereichen ein Beispiel für Europa gibt."