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''Freuds verschwundene Nachbarn''

Köhler: Sie rekonstruieren eine Hausgemeinschaft, genauer eine jüdische Hausgemeinschaft in den Dreißigern im 9. Bezirk Wiens. Was kann man da entdecken?

Lydia Marinelli, wissenschaftliche Leiterin des Freud-Museums, im Gespräch |
    Marinelli: Also den Hintergrund zur Ausstellung bildete die Frage, die Besucher immer wieder an uns richteten, nämlich wer hat hier neben Freud sonst noch gewohnt. Das Museum ist in einer Wiener Mietwohnung untergebracht, eine geräumige zwar, in der Freud seine Praxis beziehungsweise seine Privatwohnung hatte. Dennoch sind die anderen Wohnungen im Haus nach wie vor wie zu Freuds Zeiten Mietwohnungen, in denen private Parteien wohnen beziehungsweise Geschäftslokale, die nichts mit uns zu tun haben. Und so, denke ich, ist die erste Erfahrung der Besucher, die das Haus betreten, die, dass sie an Türen vorbeigehen, denen bislang überhaupt keine Aufmerksamkeit geschenkt worden ist, also die außerhalb der Museumszone liegen, und um diese einfach klingende Frage zu beantworten, haben wir eben jetzt in einer eineinhalbjährigen Recherche versucht herauszufinden, wer tatsächlich hier neben Freud gewohnt hat.

    Köhler: Das geht Einem ja schon so bei weniger prominenten Adressen. Wenn man jemand besucht irgendwo und geht ins Haus, dann fragt man sich ja oft, wer mag da wohl wohnen, was mag hinter dieser Tür passieren. Sie rekonstruieren eine Hausgemeinschaft, wenn ich es richtig verstanden habe, genauer, eine jüdische Hausgemeinschaft in den 30er Jahren im neunten Bezirk von Wien. Was kann man da entdecken?

    Marinelli: Entdecken kann man an dem Haus, dass es ein Nebeneinander von jüdischen und nichtjüdischen Parteien gab, das heißt, bis zum März 1938 war ungefähr die Hälfte der Mieter hier Juden. Wir haben allerdings versucht, jetzt nicht nur das Schicksal dieser aus ihren Wohnungen vertriebenen jüdischen Nachbarn Freuds zu rekonstruieren, sondern auch ein wenig darauf einzugehen, was in der Wohnung Freuds nach dessen Auszug passierte. Heute vermittelt das Museum den Eindruck einer Leere. Freud konnte seine Möbel, seine Antikensammlung, seine Bücher im Juni 1938 mit in sein Londoner Exil nehmen, wo man sie heute betrachten kann. Hier zurück blieb natürlich nicht eine Leere, sondern die Wohnung füllte sich sehr rasch mit Mietern, die in anderen Wiener Miethäusern ihr Mietrecht verloren hatten, die hier zwangsweise zusammengedrängt in sogenannten Sammelwohnungen untergebracht waren und bis 1942 hier lebten, also in Freuds Wohnung und Praxis konnten wir 31 Juden ausfindig machten, die hier bis zu ihrer Deportation einquartiert waren. Das heißt, wir haben versucht, doch eine Art von selbstreflexivem Projekt zu starten, nämlich genau diese Leere, die selbst schon ein szenografischer Eingriff ist die Geschichte und ausblendet, was vor der Einrichtung des Museums, also vor 1971 beziehungsweise ein Teil kam ja erst an das Freud-Museum 1987, passiert ist, und was diese Leere auch gleichzeitig verdeckt, weil gerade im Zusammenhang mit diesem Thema sind immer wieder Leeren als adäquate ästhetische Repräsentationsform gewählt worden. Wir haben allerdings ganz im Gegenteil versucht, neuerlich darauf einzugehen, was diese Leere auch wieder eben nicht thematisiert beziehungsweise verdeckt.

    Köhler: Sie haben gerade auch schon das Datum Juni 1938 genannt, als Sigmund Freud ins Exil ging. Es gibt eine berühmte Erklärung, die er unterschrieben hat, die so das Schicksal nach dem so genannten Anschluss Österreichs beschreibt. Das sind wenige Zeilen, ich lese sie rasch vor. Sie lauten: Ich bestätige gern, dass bis heute, den 4. Juni 1938, keinerlei Belästigung meiner Person oder meiner Hausgenossen vorgekommen ist. Behörden und Funktionäre der Partei sind mir und meinen Hausgenossen ständig korrekt und rücksichtsvoll entgegengetreten. Wien, 4. Juni 1938, Prof. Dr. Sigmund Freud. Beschreibt das die Situation, die Sie versuchen zu rekonstruieren?

    Marinelli: Sie beschreibt einerseits sehr genau die Situation, in der Freuds Emigration verlaufen ist. Doch ich denke, was man an der Ausstellung entdecken kann, ist folgendes: Freuds Emigration - wie ich eben schon gesagt habe, er konnte seine Möbel, seine Couch mitnehmen - erweist sich, verglichen mit dem Schicksal der anderen jüdischen Hausbewohner, als singulärer Fall.

    Köhler: Ihm ging es gut.

    Marinelli: Das heißt, er verfügte über internationale Kontakte. Er verfügte über Freunde, die die Geldsumme aufbrachten, damit er die so genannte Reisfluchtsteuer bezahlen konnte. Ich würde das nicht als gut bezeichnen. Allerdings vor dem Hintergrund dessen, was mit den anderen Hausparteien hier passiert ist, erweist sich das doch als Ausnahmefall.

    Köhler: Was ist den anderen zugestoßen?

    Marinelli: Den anderen Bewohnern, die hier gewohnt haben und aus ihren Wohnungen vertrieben worden sind, gelang die Flucht of erst später beziehungsweise unter viel größeren Repressalien. Sie haben oft ihr gesamtes Vermögen verloren beziehungsweise in einem Fall gelang die Flucht nicht. Adolf Matthias und dessen Frau Stefanie Matthias wurden nach Lodz deportiert und dort umgebracht. Das heißt, man sieht, dass im Grunde - Das Museum ist auch eine Art Forschungsinstitution, nicht nur Gedächtnis oder Erinnerungsort - ein wenig in Frage zu stellen ist, woran hier erinnert wird. Wenn nämlich Freuds Emigration als geglückte Emigration in Österreich in den 70er Jahren zur Darstellung kam, andrerseits aber an die Hausbewohner hier, die das Glück nicht hatten, nicht erinnert wird.

    Köhler: Also es ist auch ein Stück Geschichte verschleppter Entschädigung in Österreich?

    Marinelli: Es ist natürlich auch, weil wir versucht haben, nicht nur jetzt bei der Zeit vor 1945 stehen zu bleiben, sondern die Fäden bis zur Gegenwart zu ziehen, ein Stück Gegenwartsgeschichte, weil wir versuchen, in einem Fall am Beispiel des koscheren Fleischhauers Kornmehl ein Restitutionsverfahren zu rekonstruieren, und daran sieht man, wie lange es gebraucht hat, bis zum Beispiel Österreich entzogene Mietrechte in seine Entschädigungspraxis aufgenommen hat. Erst seit dem Jahr 2001 ist es möglich, eine symbolische finanzielle Entschädigung für Mietrechte zu erhalten.

    Köhler: Ist die Ausstellung gut aufgenommen worden oder sind Sie als eine Art Nestbeschmutzer vielleicht verunglimpft worden?

    Marinelli: Also heute gab es schon die ersten Drohanrufe, Menschen, die sich von uns als Österreicher verunglimpft fühlen. Ich denke allerdings, dass das Einzelfälle sind und nicht der generellen Grundhaltung, vor allem unter den jüngeren Menschen hier entspricht. Das Interesse, das die Ausstellung zum Beispiel gestern bei der Eröffnung ausgelöst hat, war ein sehr großes.

    Köhler: Vielen Dank für das Gespräch.

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