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Friedenspreis für Navid Kermani
"Sensibilität für hoch aktuelle Themen"

Navid Kermani ist der erste Muslim, der den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält - das war an der Zeit, findet der Islamwissenschaftler Stefan Weidner. Kermani sei ein hochgebildeter, in der Tradition versierter, auch auf eine spirituelle Weise gläubiger Muslim - dabei aber nicht unkritisch gegenüber seiner Religion, sagte er im DLF.

Stefan Weidner im Gespräch mit Karin Fischer | 18.06.2015
    Der Schriftsteller Navid Kermani
    Der Schriftsteller Navid Kermani (dpa / picture alliance / Ingo Wagner)
    Navid Kermani: "Ausgerechnet das Grundgesetz, in dem Deutschland seine Offenheit auf ewig festgeschrieben zu haben schien, sperrt heute diejenigen aus, die auf unsere Offenheit am dringlichsten angewiesen sind: die politisch Verfolgten."
    Karin Fischer: Ein Ausschnitt aus Navid Kermanis Rede im Bundestag im Mai vergangenen Jahres zum 65. Geburtstag des Grundgesetzes. Nicht erst damals hat sich der Schriftsteller und Publizist für die Verfolgten eingesetzt, seither aber immer wieder. Er war überhaupt einer der ersten deutschen Intellektuellen, der das Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer mit lauter Stimme benannt und auf die Agenda gesetzt hat, zuletzt auch in der Sendung "Kulturfragen" des Deutschlandfunks:
    Navid Kermani: "Dass Staaten rings um Europa zusammenbrechen, dass sie von Terrorbanden überfallen werden, dass die Menschen die elementaren Leistungen, ich rede ja schon gar nicht von Demokratie, aber einfach, dass sie morgens die Kinder nicht mehr zur Schule schicken können, dass es keinen Staat mehr gibt, dass es keine Grundversorgung mehr gibt, dass es keine Nahrung gibt, dass sie vertrieben werden, dass ganze religiöse Minderheiten vertrieben werden, aus dem Land geschafft werden, diese gewaltigen Probleme, die wir jetzt in diesem Gürtel von, sagen wir, Nordafrika bis hin zu Kaschmir, weil so weit geht das ja, und Afghanistan haben, da bricht eine Welt zusammen. Und es ist völlig illusorisch zu meinen, dass die unmittelbar angrenzende Welt, nämlich wir, Europa, von diesem Zusammenbruch nicht betroffen seien."
    Fischer: Diese Analysen sind schmerzhaft und tun einer Gesellschaft weh. Trotzdem oder gerade deshalb ist Navid Kermani der neue Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und damit auch als Brückenbauer geehrt worden. - Im Studio ist Stefan Weidner, Islamexperte, Kollege und auch Freund von Navid Kermani. Herr Weidner, was zeichnet die publizistische Vermittlungsarbeit Kermanis für Sie aus?
    Stefan Weidner: Es sind zwei Dinge. Er ist zum einen ein großer Stilist. Er kann einfach ganz hervorragend schreiben. Er kann sich der deutschen Sprache ganz souverän bedienen. Das ist das eine und das andere ist die große Bandbreite seines Werks. Ich glaube, jeder Leser kann eigentlich in Navid Kermanis Werk etwas finden. Sie können einen Roman wie "Große Liebe" lesen, ein relativ kurzer Roman. Dafür müssen Sie nicht studiert haben. Aber auch der Akademiker, der jetzt den höchsten wissenschaftlich-philologischen Anspruch hat, findet in einem fast enzyklopädischen Werk wie "Gott ist schön" über die Koran-Rezeption bei den Muslimen Stoff für ein ganzes Leben. Und vor allen Dingen auch seine Artikel sind sehr, sehr lesenswert, immer wieder erfrischend. Es ist diese Bandbreite, glaube ich, die sein Werk wirklich groß macht.
    "Sensibilität für Biografien, die so einen gewissen Bruch haben"
    Fischer: Es geht um das Neben- und Miteinander der Religionen. Es geht um eine offene europäische Gesellschaft, die er einfordert. Wie bedeutsam ist dabei die Tatsache, dass er auch selbst ja immer betont, in zwei Kulturen groß geworden zu sein?
    Weidner: Das erhöht natürlich die Sensibilität für diese Fragen. Man kann in seinem dicken Buch, Roman "Dein Name" nachlesen, wie die Eltern, die aus sehr gebildeten Haushalten im Iran kamen, Ärztefamilien waren, religiöse Gelehrte, wie die in Deutschland in den 50er- und 60er-Jahren marginalisiert, für so eine Art Zigeuner gehalten worden sind, obwohl sie dort Medizin studiert haben. Und wenn man eine solche familiäre Erfahrung mitbringt, obwohl Navid Kermani ja in Deutschland geboren ist, hier das Abitur gemacht hat, im Grunde von Anfang an voll integriert war, hat man natürlich doch eine stärkere Sensibilität für Biografien, die so einen gewissen Bruch haben, die eine gewisse Verletzlichkeit mit sich bringen. Wir müssen bedenken: Es ist wirklich der erste deutsche Muslim, der den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommt. Das hat lange gedauert in der Geschichte des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, und ich glaube, das war jetzt an der Zeit. Wie gesagt: Navid Kermani hat eine besondere Sensibilität für die Themen, die jetzt hoch aktuell sind.
    Fischer: Er hat ja - nicht zur Freude von allen - immer auch gegen die Abwertung der islamischen Religion gestritten und für die Anerkennung dieses anderen, uns ja sehr fremden Glaubensverständnisses.
    Weidner: Das ist auch ein sehr spannender Aspekt Navid Kermanis. Niemand, auch die bösesten Islamkritiker werden Navid Kermani nicht unterstellen können, dass er irgendwie salafistisch ist, unkritisch gegenüber dem Islam, und trotzdem schlägt er nicht in die Kerbe derjenigen, die einfach mit Stereotypen gegen den Islam einhacken, sondern es ist ein hochgebildeter, in der Tradition versierter, durchaus auch auf eine spirituelle Weise gläubiger Muslim, der aber gar nichts von dieser dogmatischen Verhärtung hat, die am Islam immer wieder kritisiert wird.
    Fischer: Wir kennen die großen europäischen Schriftsteller, die sich auch an der europäischen Tradition messen lassen wollen. Orhan Pamuk zum Beispiel gehört auch dazu. Sie haben die großen Werke Kermanis erwähnt. Sein Lieblingsdichter ist Jean Paul. Und er behandelt tatsächlich dort auch diese großen Menschheitsthemen?
    Weidner: Genau: Jean Paul, Kafka. Das ist auch spannend gerade am literarischen Werk von Navid Kermani. Er ist einerseits auf der höchsten Reflektions- und Abstraktionsebene. Das erinnert jetzt zum Beispiel an Jean Paul oder die Dichter der Romantik und des Idealismus. Andererseits liebt er es auch, auf eine fast ein bisschen manische Weise in den menschlichen Abgründen zu wühlen und auch sich selber oder sein literarisches Alter Ego bloßzustellen. Er macht in seinen Büchern die ganze Bandbreite der menschlichen Existenz vom hehren Ideal bis zur niedrigsten Körperlichkeit auf.
    Fischer: Navid Kermani wird mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2015 geehrt - herzlichen Dank für diese freundliche Einschätzung von Stefan Weidner.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.