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Friedensschluss nach dem ersten Weltkrieg

Wer als historisch interessierter Zeitgenosse an das Ende des Ersten Weltkrieges denkt, dem fällt automatisch auch der Versailler Friedensvertrag ein. Doch Deutschland war als einer der Verliererstaaten nicht die einzige Nation, der harte Bedingungen für die Nachkriegsordnung auferlegt wurden. Ungleich stärker war Ungarn betroffen.

Von Bernd Ulrich | 04.06.2005
    Am 4.Juni 1920 trug Ungarn Trauer. Hunderttausende von Budapester Bürgern zogen schweigend und schwarz gekleidet durch die Straßen der Stadt. Alle Schulen, die Universitäten und viele Geschäfte und Betriebe waren geschlossen, die großen Zeitungen zwar erschienen, aber mit schwarzen Trauerbalken auf ihren Titelseiten versehen. Die aber kündeten an diesem Tag nur von einem Ereignis: Die ungarischen Gesandten August Benard und Alfred von Drasche-Lazar hatten im Palais "Grand Trianon" in Versailles den Friedensvertrag zwischen Ungarn und den alliierten Siegermächten des Ersten Weltkriegs unterzeichnen müssen.

    " Ich glaube an einen Gott, ich glaube an ein Vaterland, ich glaube an eine göttliche ewige Wahrheit, ich glaube an die Auferstehung Ungarns. "

    Mit dieser gebetsgleichen Formel sollten in den kommenden Jahren die Schüler Ungarns jeden neuen Schultag beginnen, während auf den Schulhöfen wie im gesamten Land die Fahnen von nun an auf Halbmast blieben. Was war geschehen?

    Als Teil der Habsburger Doppelmonarchie gehörte Ungarn sowohl zu den Verlierern des Ersten Weltkriegs als auch – neben dem deutschen Kaiserreich – zu den Verantwortlichen für die mehr als vier Jahre andauernde "Urkatastrophe". Doch der Preis, den Ungarn zu zahlen hatte, war hart. Tatsächlich missachtete der Vertrag von Trianon, bald "Diktat von Trianon" genannt, das Selbstbestimmungsrecht der Völker in eklatanter Weise. Ungarn verlor über zwei Drittel seines Staatsgebietes. Mehr als drei Millionen Ungarn fanden sich nach der Umsetzung des Vertrags in durch ihn begünstigten Nachbar- oder neu gegründeten Staaten wieder. 1,6 Millionen lebten nun in Rumänien, eine Million in der neu begründeten Tschechoslowakei und immerhin noch eine halbe Million im kurz darauf entstehenden Königreich Jugoslawien. "Das vormals mächtige Königreich", so der Hungarologe Thomas von Ahn,

    " in dem die Ungarn die staatstragende Volksgruppe bildeten, war ein europäischer Kleinstaat ohne außenpolitischen Spielraum geworden. Die Menschen mussten mit den verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Friedensvertrages kämpfen. "

    Ähnlich wie im besiegten Deutschland der fortwährende Kampf gegen das "Diktat von Versailles" die eigentliche Staatsräson bildete, geriet auch in Ungarn die Beseitigung der "Schande von Trianon" zum nationalen Konsens. Geführt vom letzten Befehlshaber der österreichisch-ungarischen Marine, Miklos Horthy, hatte die extrem nationalistische Regierung auch die vermeintlich wahren Verursacher des nationalen Traumas identifiziert: die ungarischen Juden. Die ihnen zugedachte Rolle als Sündenböcke wurde von einer gleichgeschalteten Presse wachgehalten, um den sowieso vorhandenen Antisemitismus im Lande noch zu verstärken.

    So wurde schließlich Adolf Hitler zur ungarischen Hoffnungsfigur, mit deren Hilfe man die Wiederherstellung Groß-Ungarns zu erreichen suchte. Bis es soweit war, diente der Rückgriff auf die ruhmreiche Geschichte Ungarns, namentlich auf Stephan I., den ersten ungarischen König, als Stimulans. Hörbar etwa in einer Reportage des großdeutschen Rundfunks über die Beisetzung der rechten Hand Stephans in der alten Krönungsstadt Stuhlweißenburg am 20.August 1938:

    " Der Vertrag von Trianon hat Ungarn zersch.., verkleinert, hat das großungarische Reich auf einen kleinen Kernpunkt zusammengedrängt. Die ganze Hoffnung dieses stolzen und starken Landes, dieses Volkes, das in der Stephanskrone geeint ist, im einheitlichen Staatsgedanken zusammengeschmiedet, geht dahin, die Spuren dieses Vertrages einstmals zu verwischen und im Zeichen dieses Königgedankens, dieses Stephangedankens, wieder groß und mächtig zu werden. "

    Mit Hilfe des faschistischen Italiens und des nationalsozialistischen Deutschlands konnten zwischen 1938 und 1941 alle in Trianon verlorenen Gebiete wiedergewonnen werden. Doch Ungarns Versuch, seine alte territoriale und nationale Größe wiederzuerlangen, ohne dabei in eine zu starke Abhängigkeit zum nationalsozialistischen deutschen Reich zu geraten, misslang gründlich. Den Preis dafür zahlten die ungarischen Bündnistruppen Hitlers, deren Soldaten vor Stalingrad verhungerten, erfroren und im Kampf getötet wurden. Und die fast 400.000 ungarischen Juden, die nach der Besetzung Ungarns im Frühjahr 1944 durch deutsche Truppen noch in den letzten Monaten des Krieges nach Auschwitz deportiert wurden.