Philosophie erhält sich am Leben, weil ihre Verwirklichung versäumt wurde. So lautete die Bilanz der Kritischen Theorie von Theodor W. Adorno am Ende der sechziger Jahre, als auch Studenten der Kritischen Theorie sich anschickten, die Revolution nachzuholen, die nach dem Krieg ausgeblieben war. Mit Marx und gegen Adorno waren sie der Meinung, dass die Philosophie die Welt nur interpretiere, dass es aber nun mehr denn je darauf ankomme, sie zu verändern. Auch Frieder O. Wolf, Jahrgang 1943, Publizist, Hochschullehrer, Redaktionsmitglied verschiedener Zeitschriften und Europaabgeordneter der Grünen, gehörte zum marxistischen Kern der Studentenbewegung. Heute plädiert er für eine "radikale Philosophie", die, wie das Buch im Untertitel heißt, sich als Philosophie der "Aufklärung und Befreiung in der neuen Zeit" versteht, aber keine politischen Empfehlungen geben will.
Mit dem Traum des unmittelbaren Einstiegs der Menschheit in eine definitiv fortgeschrittene Gegenwart der eingelösten Ideale der Moderne ... ist auch die Vorstellung an ihr Ende gekommen, das Erbe von Aufklärungs- und Befreiungskämpfen der Menschheitsgeschichte in Gestalt einer umfassenden, positiven Gesellschafts- oder Geschichtstheorie einbringen zu können. Die Kräfte von Aufklärung und Befreiung sind wieder darauf angewiesen, ihre Kritik und ihre Visionen im Medium philosophischer Debatten um grundlegende Orientierungen zur Geltung zu bringen.
Das hört sich an wie eine Rückkehr zu dem, was die radikale Linke von damals verworfen und Philosophen wie Adorno als unpolitisches, praxisfeindliches Verhalten vorgeworfen hat. Auch die Radikalen von gestern fragen sich heute, was die Moderne mit ihren wissenschaftlich-technischen und politischen Folgen eigentlich ist und was die Aufklärung bewirkt hat und was sie nicht verhindern konnte. Um diese Frage dreht sich seit einigen Jahren die philosophische und kulturwissenschaftliche Diskussion. Wie schwer es jemand mit dieser Diskussion hat, der den um ‘68 aufgegangenen Traum von der Vollendung der revolutionären Geschichte der Moderne intensiv geträumt hat und dazu noch, wie der Autor, durch die harte Schule von Theoretikern der Kommunistischen Partei wie Louis Althusser und Lucien Goldmann gegangen ist, zeigt dieses Buch. Unter dem im englischen Sprachraum eingeführten Titel "Radikale Philosophie" geht es um Bestandsaufnahme und Standortbestimmung, um eine Methode, durch eine breit gestreute Aufmerksamkeit, geduldiges Zuhören, sorgfältige Analyse und Argumentation und andere liberale Tugenden einer gehobenen Gesprächs- und Streitkultur politische Potentiale, die in die richtige Richtung weisen, auffindbar zu machen und Debatten zu führen. Radikale Philosophie, so Wolf, könne nicht mehr wie der Marxismus die Aufgabe stellen, die Massen zu agitieren, sondern nur noch versuchen, mit den "Vielen", wie er sich etwas mysteriös ausdrückt, die in irgendeiner Form kritisch denken und handeln, ins Gespräch zu kommen. Ein bescheidenes Programm, dem der Schock anzumerken ist, den die Verdrängung des Marxismus und der Sozialphilosophie aus dem gegenwärtigen politisch-philosophischen Diskurs ausgelöst hat.
An diese Diskussion knüpft Wolf inhaltlich nicht an. Thematisch hat es seine Version der "Radikalen Philosophie" mit den alten neomarxistischen Begriffen Herrschaft, Aufklärung und Befreiung zu tun. Solche Begriffe sind heute höchst erklärungsbedürftig, werden aber nicht erläutert oder diskutiert. Das ist ein Versäumnis, das sich als Zeichen verstehen lässt: angesprochen können sich diejenigen fühlen, für die die Leitbegriffe dieser Philosophie nicht erläutert zu werden brauchen. Und das sind vermutlich die alten Genossen, die wie Wolf und viele andere nicht so recht wissen, was sie heute denken und tun sollen. In dem Konzept steckt der Appell, am radikalen Engagement festzuhalten und sich nicht wendehalsig oder schweigend von ihm zu verabschieden oder es nur noch als Gegenstand der historischen Forschung zu behandeln.
Ein solcher Appell ist durchaus nachvollziehbar. Dennoch kann man sich schwer vorstellen, dass er Erfolg haben wird, wenn die "neue Zeit", die Wolf registriert und deren Verständnis er zum Programm seiner Philosophie macht, nicht in der Auseinandersetzung mit den jüngeren Generationen und Diskussionsansätzen, die von ihnen aufgegriffen werden oder aus ihren Reihen kommen, zum Sprechen gebracht wird. Das Buch erweckt den Eindruck, als wolle ein alter, enttäuschter Revolutionär gerade nicht nur jammern und grollen, sondern die Ärmel hochkrempeln. Aber der Eindruck täuscht. Vielmehr stellt sich auch bei der Lektüre dieses Buches der generellere Verdacht ein, dass es dem Marxismus angesichts der neuen, sich alternativlos über die Welt verbreitenden kapitalistischen Wirtschafts-, Finanz- und Verkehrsverhältnisse die Sprache verschlagen hat. Das würde den insistenten Formalismus von Wolfs Arbeit erklären, die gänzliche Beschränkung aufs Methodische, durch die das ganze Buch zu einer einzigen Definition wird. In einer "vorläufig abschließenden" Form hört sich diese dann so an:
Radikale Philosophie ist eine intellektuelle Tätigkeit, die vom Selberdenken jedes Menschen ausgeht und dessen Stärkung zum Ziel hat. Sie ist eine inkonklusive Gestalt der Wahrheitspolitik, die sich nicht mit relativistischer Gleichgültigkeit zufrieden gibt, die aber auch nicht beansprucht, die eigenen Wahrheitsziele selber einlösen zu können. Dazu antizipiert sie eine befreiende historisch kontingente Praxis der Vielen, eine Vollendung der Aufklärung in der Entfaltung der theoretischen Durchdringung eben dieser Praxis ... - indem sie ‘Platzhalter`-Konzepte produziert, die dazu beitragen, die Fragen nach diesen Antworten in Gang zu bringen und in Gang zu halten.
Man sieht: der Schulterschluss mit dem Radikalen angelsächsischer Provenienz nützt nicht viel, der deutsche Radikale kommt am Ende doch zum Vorschein. Die Führungsrolle und der theoretische Anspruch des marxistischen Intellektuellen sind trotz des liberalen Arbeitsvorschlags und der scheinbar ganz bescheidenen Platzhalterrolle unverkennbar präsent. Es ist fraglich, ob das Buch in dieser widersprüchlichen Form tatsächlich das Manifest werden kann, was es nach Ansicht seines Autors bereits ist.
Bernd Leineweber besprach: Frieder Otto Wolf: "Radikale Philosophie, Aufklärung und Befreiung in der neuen Zeit", erschienen im Verlag Westfälisches Dampfboot. Es hat 286 Seiten und kostet 24.80 Euro.