Das ist eine typisch westliche Sicht. Wir sehen ein Verhalten, das sich außerhalb unseres eigenen Kontextes bewegt, als krank an. Aber wenn sich die Verhältnisse in einem Land ändern, können extreme Verhaltensweisen durchaus gewöhnlich werden. (...) Wenn US-Präsident George Bush morgen sagt, dass wir junge Männer brauchen, die auf diese Weise gegen Osama bin Laden, Saddam Hussein oder auch Gerhard Schröder kämpfen, um unsere Freiheit zu verteidigen, würden sich einen Tag später Tausende von Freiwilligen melden.
Der erste Band mit dem Titel "Ein Denken, das zum Sterben führt" beleuchtet das Selbstmordattentat vor allem als aktuelles Problem. Der zweite Sammelband, "Martydom in Literature" konzentriert sich auf Rolle der Literatur bei der Entstehung und Verbreitung des Märtyrergedankens. Denn Literatur, sagt Herausgeberin Friederike Pannewick, habe im Laufe der Jahrhunderte unser Bild vom Märtyrer geprägt.
Man kann vielleicht sogar so weit gehen und fragen, was war zuerst da, die Literatur oder das Märtyrertum, wo ist die Henne, wo ist das Ei? Ist es vielleicht so, dass irgendwann ein Mensch einen Bericht von einem Märtyrertod erfunden hat und dieses literarische Bild, diese Geschichte hat andere Menschen so stark beeinflusst und bewegt, dass sie irgendwann in einer bestimmten Situation in ihrem Leben bereit waren, so eine Tat selber zu vollbringen.
Als Beispiel nennt sie die "Leiden des jungen Werther", jenen berühmten Roman Johann Wolfgang Goethes, der im selbstgewählten Heldentod des Protagonisten endet, weil seine Liebe zu einer jungen Frau zum Scheitern verurteilt ist. Diese Geschichte hat junge Männer scharenweise zur Nachahmung animiert. Der Märtyrertod, vor allem für die Sache der Religion, hat in Europa aber längst seine Anziehungskraft verloren. Entsprechend wird er auch nicht mehr in der Literatur thematisiert. Anders in der arabischen Welt, vor allen Dingen in Palästina, wo Dichter wie Mahmud Darwisch in den sechziger Jahren ein Loblied auf die Fedayeen sangen, die Kämpfer der Palästinensischen Befreiungsorganisation. Mahmud Darwisch, ein Säkularist, hat sich mittlerweile vom Todeskult distanziert, den die Islamisten in Palästina inszenieren, wie auch einige andere arabische Schriftsteller, die in dem Sammelband behandelt werden. Das Buch "Martyrdom in Literature" ist aus einer Reihe internationaler Symposien hervorgegangen, die das Wissenschaftskolleg in Berlin veranstaltet hat. Deswegen sind zwei Drittel der Beiträge in englischer Sprache verfasst. Die Autoren stellen Epochen- und kulturübergreifend einige Gemeinsamkeiten von christlichen Märtyrern des Mittelalters und islamischen Selbstmordattentätern der heutigen Zeit dar. Ein Beispiel: Beide brauchen eine "Bühne", wie Pannewick es nennt, damit ihre Tat öffentlich wahrgenommen wird: Ohne Öffentlichkeit kein Martyrium.
Dann, würde ich sagen, ist auch immer ein Element der Grenzüberschreitung mit drin. Diese Person ist sich bewusst, dass sie eine moralische, religiöse und politische Grenze überschreitet und dass diese Grenzüberschreitung Konsequenzen haben wird. Sanktionen, Leiden, sein eigener Tod. Und diese Grenze zu überschreiten, trotz der Konsequenzen, ist der Märtyrer bereit...
Doch während der Märtyrer für seinen Mut bewundert wird, galt oder gilt Selbstmord in fast allen Gesellschaften quasi als Verbrechen. In Christentum und Islam wird Selbstmord in aller Regel als Anmaßung gegenüber Gott, dem Schöpfer des Lebens betrachtet. Und er ist ein soziales Problem, ein Problem für den Zusammenhalt von Gesellschaften, so die Analyse von Emile Durkheim, dem Begründer der modernen Soziologie. Der Zugriff auf den eigenen Tod bleibe, so die Grundannahme, dem Primat des sinnvollen Lebens untergeordnet:
Und das meint vor allem, dass es grundsätzlich sinnvoll ist, zu leben und nicht etwa sich umzubringen. Denn wo sich jedermann umbringt, ist bald keine Gesellschaft mehr – weder Individuen noch Ordnung.
Auch deshalb bestehen viele Menschen im Nahen Osten, gerade in Palästina, auf dem Begriff "Märtyrer". Denn die Selbstmordattentate islamistischer Extremisten zielen eben nicht auf die Zerstörung der eigenen Gesellschaft ab, sondern auf das Gegenteil: Sie sollen den Palästinensern Mut geben im Kampf gegen einen übermächtigen Feind. In den Augen der Islamisten ist dieser Feind nicht die israelische Armee, sondern die ganze israelische Gesellschaft, also auch Frauen und Kinder. Alle Israelis seien Besatzer und somit legitime Ziele militärischer Operationen. Diese Interpretation ist für die meisten Europäer inakzeptabel. Auch Herausgeberin Friederike Pannewick unterscheidet daher klar zwischen "Märtyrer" und "Attentäter":
Der christliche Märtyrer tötet nicht sich, er tötet nicht andere. Es sind die anderen, die ihn töten. Der christliche Märtyrer stirbt in der Nachfolge Christi.
Es ist ein Verdienst der beiden Sammelbände, die Phänomene Martyrium und Selbstmordattentat historisch und kulturgeschichtlich aufzuarbeiten und aus dem islamischen Kontext herauszuholen. Sie dokumentieren, wie weit verbreitet die Bereitschaft, sich für eine Sache zu opfern, auch in Europa einst war. Und wenn der eingangs zitierte Psychologe Scott Atran Recht hat, ist auch heute keine Gesellschaft gegen religiöse Fanatismen gefeit – schon gar nicht die USA, meint Herausgeberin Pannewick.
.... und da denken wir an die Rhetorik von Bush, der von einem Kreuzzug gesprochen hat, der ununterbrochen religiöse Symbolik, religiöse Bilder und christliche Moral in seine Reden einflicht, da ist der religiöse Opferbegriff auf jeden Fall vorhanden.
Dennoch bleibt bei der Lektüre gelegentlich das Gefühl, dass hier Äpfel mit Birnen verglichen werden: Die Selbstmordbereitschaft palästinensischer oder tschetschenischer Jugendlicher hat eben wenig mit dem Leiden des jungen Werther zu tun. Und auch nicht mit der Märtyrerbereitschaft früher Christen. Sie ist vielmehr das Resultat so genannter asymmetrischer Konflikte, die es in dieser Form erst seit dem 20. Jahrhundert gibt. Das Resultat von Kriegen, in denen hochgerüstete Armeen einen Feind bekämpfen, der dem wenig entgegenzusetzen hat – außer eben jene Selbstmordattentate, die oft nur das Bedürfnis nach Rache stillen.
Albrecht Metzger war das über zwei Sammelbände zum Thema Selbstmordattentat. Den ersten haben Ines Kappert, Benigna Gerisch und Georg Fiedler herausgegeben. Der Titel: "Ein Denken, das zum Sterben führt". Erschienen im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. 200 Seiten kosten 15,90 Euro. Herausgeberin des zweiten Bandes ist Friederike Pannewick: "Martyrdom in Literature" heißt das Buch. Es ist im Reichert Verlag Wiesbaden erschienen. 369 Seiten für 59 Euro.
Ines Kappert, Benigna Gerisch, Georg Fiedler (Hg.):
Ein Denken, das zum Sterben führt.
Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004, 200 Seiten. 15,90 Euro.
Rezensent: Albrecht Metzger
Friederike Pannewick (Hg.): Martyrdom in Literature. Reichert Verlag, Wiesbaden 2004, 369 Seiten. 59 Euro.