Jürgen Zurheide: Ist da etwas schief im deutschen Arbeitsrecht? Und da wollen wir einen fragen, der es genau weiß. Friedhelm Farthmann, langjähriger Arbeitsminister in Nordrhein-Westfalen, aber selbst habilitierter Arbeitsrechtler, also Jurist und Politiker. Er ist jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Farthmann!
Friedhelm Farthmann: Guten Morgen, Herr Zurheide!
Zurheide: Herr Farthmann, zunächst einmal: Ist das eigentlich ein neues Phänomen, was wir da gerade beobachten, oder reden wir inzwischen einfach nur mehr darüber und erfahren das, was es früher auch in Ihrer Zeit als Arbeitsminister schon gegeben hat, oder erinnern Sie solche Fälle, vor zehn Jahren meinetwegen, nicht?
Farthmann: Doch, es hat das eigentlich immer gegeben, aber es ist eine eigenartige Modeerscheinung, dass plötzlich das auftaucht in einer Fülle, die gänzlich untypisch ist und mit den bisherigen Erfahrungen überhaupt nicht übereinstimmt. Wie so was hochkommt, ob das fast wie eine ansteckende Krankheit ist, ich weiß es nicht. Es ist jedenfalls eine nicht zu begreifende Fülle von Fällen.
Zurheide: Jetzt haben wir gerade die Menschen gehört, da ist ja eine Welle der Empörung, denn das ist aufwühlend. Auf der einen Seite hört man von Managern, die mit Millionenabfindungen nach draußen gehen, obwohl sie starke Fehler gemacht haben, und dann hier so was. Auf der anderen Seite wissen wir natürlich, Diebstahl ist Diebstahl. Fragen wir zunächst mal nach der Befindlichkeit, wenn ich den Politiker in Ihnen frage und nicht so sehr den Arbeitsrechtler: Wie reagiert der Politiker auf solche Urteile?
Farthmann: Also im Grunde gibt es Diebstahl ist Diebstahl, wie Sie schon völlig zu Recht gesagt haben, und da gibt es keine Wertuntergrenze. Wie hoch der Wert ist, der gestohlen wird, ist unerheblich, entscheidend ist der Vertrauensverlust. Und der Punkt ist ja, wenn so jemand erwischt wird bei so einem Kassenbon oder irgendeiner Kleinigkeit, keiner weiß ja, ob das das erste oder das zehnte Mal ist und wie viel Mal das noch in Zukunft sein wird. Insofern ist diese Empörung und diese Betroffenheitshysterie, die da ausgebrochen ist, für mein Gefühl nicht berechtigt. Auf der anderen Seite muss man natürlich die Welle genau unterscheiden. Wenn es so ist, wie das vielfach ja auch von mir beobachtet worden ist in der Praxis, wenn Gäste bewirtet worden sind mit Schnittchen und Schnittchen bleiben über, dann ist es eigentlich üblich, dass der Arbeitgeber sagt: Hier, wollt ihr das nicht aufessen, ist doch zu schade, dass das verkommt. Dann kann man natürlich keinem einen Vorwurf daraus machen, wenn er das dann auch mal macht bei einer Situation, wo nicht ausdrücklich die Erlaubnis dazu erteilt worden ist. Wie ich aber gehört habe in diesem Fall da in Radolfzell, ist sogar vorher ausdrücklich gesagt worden, es ist nicht gestattet, von den Resten, dass die Arbeitnehmer die in Anspruch nehmen und davon speisen. Also man wird wahrscheinlich jeden Fall genau untersuchen müssen, aber es muss klar sein, eine Wertuntergrenze gibt es nicht. Vertrauensbruch ist Vertrauensbruch, Diebstahl ist Diebstahl!
Zurheide: Jetzt kann man natürlich fragen, wenn Recht und Rechtsgefühl auseinanderklaffen – und dass der Befund richtig ist, ich glaube, das können wir heute unterstellen, das merken wir ja an der Reaktion der Menschen, weil sie möglicherweise auch die Dinge vergleichen, die nicht vergleichbar sind. Ich hab's angesprochen, die Millionenabfindungen für Manager, die Fehler gemacht haben und so etwas. Wenn Recht und Rechtsgefühl auseinanderklaffen, muss der Rechtsstaat dann irgendwie eingreifen und handeln?
Farthmann: Das Rechtsgefühl ist nun ein sehr unsicherer Maßstab, das schwankt unheimlich nach den Stimmungen, peitscht hoch und klingt wieder ab. Davon sollte man sich nicht allzu sehr leiten lassen. Das gesunde Volksempfinden war schon ein Maßstab, den die Nazis einzuführen versucht haben und, Gott sei Dank, damit gescheitert sind. Also man muss schon klare, objektive Maßstäbe haben. Und wenn ein Straftatbestand erfüllt ist, ist in aller Regel dem Arbeitgeber nichts vorzuwerfen, wenn er sagt, ich hab das Vertrauen verloren zu diesem Beschäftigten. Ich glaube auch nicht, dass es für unser Rechtssystem gut ist, wenn diese ständige Aufweichung stattfindet und keiner mehr weiß, wo es eigentlich lang geht. Mich empören genauso diese Abfindungen, die da gezahlt werden für schlechte Dienstleistung, für schlechte Führungsqualitäten, wie überhaupt ich diese ganze Entlohnungsmethode bei den Spitzenfunktionen, insbesondere im Bankgewerbe, die völlig aus dem Ruder gelaufen sind und durch nichts zu rechtfertigen sind, aber die keinen dazu berechtigen, im Alltag Straftaten zu begehen und zu sagen, die da oben machen's ja noch schlimmer. Wir müssen überall klare, objektive Maßstäbe haben, alles andere führt in die Irre und führt zu einem Verludern der Rechtskultur, die nicht im Sinne einer friedfertigen Gesellschaft liegen kann.
Zurheide: Herr Farthmann, jetzt gibt's manchmal die Kritik, auf der einen Seite schützt das Arbeitsrecht vielleicht die Falschen, wenn jemand keine Leistung bringt, so heißt es manchmal, hat man kaum eine Chance, ihn rauszukriegen, und wenn man hier so einen Fall hat, wo jemand möglicherweise lange gearbeitet hat, aber eine kleine Verfehlung sich erlaubt hat, die aber hart sanktioniert wird, dann wird er rausgeschmissen. Ist da vielleicht was schief im Arbeitsrecht?
Farthmann: Ja, ich meine, nun gibt es ja immer noch die Möglichkeit, beim Urteil zu korrigieren. Und selbst wenn ein Vertrauensbruch vorliegt und ein Grund zur fristlosen Kündigung gegeben ist, kann der Einzelrichter, wenn dann entschieden wird, natürlich sagen: Also das ist nun sozusagen durch eine langjährig erworbene Vertrauensstellung und eine langjährig erworbene positive Einstellung zum Arbeitgeber ist das hinzunehmen, und da muss nun einmal drüber weg gesehen werden. Aber ich sage noch mal, es gibt ja keine klare Erkenntnis darüber, ob das das erste Mal war oder das zehnte Mal und ob es auch in Zukunft auftritt – das ist die Schwierigkeit dabei. Insofern glaube ich, sind klare Maßstäbe, sollten wir alle fordern, klare Maßstäbe ...
Zurheide: Okay, Herr Farthmann, jetzt kommen wir auf die Nachrichten. Ich bedanke mich herzlich für das Gespräch. Danke schön, Herr Farthmann!
Friedhelm Farthmann: Guten Morgen, Herr Zurheide!
Zurheide: Herr Farthmann, zunächst einmal: Ist das eigentlich ein neues Phänomen, was wir da gerade beobachten, oder reden wir inzwischen einfach nur mehr darüber und erfahren das, was es früher auch in Ihrer Zeit als Arbeitsminister schon gegeben hat, oder erinnern Sie solche Fälle, vor zehn Jahren meinetwegen, nicht?
Farthmann: Doch, es hat das eigentlich immer gegeben, aber es ist eine eigenartige Modeerscheinung, dass plötzlich das auftaucht in einer Fülle, die gänzlich untypisch ist und mit den bisherigen Erfahrungen überhaupt nicht übereinstimmt. Wie so was hochkommt, ob das fast wie eine ansteckende Krankheit ist, ich weiß es nicht. Es ist jedenfalls eine nicht zu begreifende Fülle von Fällen.
Zurheide: Jetzt haben wir gerade die Menschen gehört, da ist ja eine Welle der Empörung, denn das ist aufwühlend. Auf der einen Seite hört man von Managern, die mit Millionenabfindungen nach draußen gehen, obwohl sie starke Fehler gemacht haben, und dann hier so was. Auf der anderen Seite wissen wir natürlich, Diebstahl ist Diebstahl. Fragen wir zunächst mal nach der Befindlichkeit, wenn ich den Politiker in Ihnen frage und nicht so sehr den Arbeitsrechtler: Wie reagiert der Politiker auf solche Urteile?
Farthmann: Also im Grunde gibt es Diebstahl ist Diebstahl, wie Sie schon völlig zu Recht gesagt haben, und da gibt es keine Wertuntergrenze. Wie hoch der Wert ist, der gestohlen wird, ist unerheblich, entscheidend ist der Vertrauensverlust. Und der Punkt ist ja, wenn so jemand erwischt wird bei so einem Kassenbon oder irgendeiner Kleinigkeit, keiner weiß ja, ob das das erste oder das zehnte Mal ist und wie viel Mal das noch in Zukunft sein wird. Insofern ist diese Empörung und diese Betroffenheitshysterie, die da ausgebrochen ist, für mein Gefühl nicht berechtigt. Auf der anderen Seite muss man natürlich die Welle genau unterscheiden. Wenn es so ist, wie das vielfach ja auch von mir beobachtet worden ist in der Praxis, wenn Gäste bewirtet worden sind mit Schnittchen und Schnittchen bleiben über, dann ist es eigentlich üblich, dass der Arbeitgeber sagt: Hier, wollt ihr das nicht aufessen, ist doch zu schade, dass das verkommt. Dann kann man natürlich keinem einen Vorwurf daraus machen, wenn er das dann auch mal macht bei einer Situation, wo nicht ausdrücklich die Erlaubnis dazu erteilt worden ist. Wie ich aber gehört habe in diesem Fall da in Radolfzell, ist sogar vorher ausdrücklich gesagt worden, es ist nicht gestattet, von den Resten, dass die Arbeitnehmer die in Anspruch nehmen und davon speisen. Also man wird wahrscheinlich jeden Fall genau untersuchen müssen, aber es muss klar sein, eine Wertuntergrenze gibt es nicht. Vertrauensbruch ist Vertrauensbruch, Diebstahl ist Diebstahl!
Zurheide: Jetzt kann man natürlich fragen, wenn Recht und Rechtsgefühl auseinanderklaffen – und dass der Befund richtig ist, ich glaube, das können wir heute unterstellen, das merken wir ja an der Reaktion der Menschen, weil sie möglicherweise auch die Dinge vergleichen, die nicht vergleichbar sind. Ich hab's angesprochen, die Millionenabfindungen für Manager, die Fehler gemacht haben und so etwas. Wenn Recht und Rechtsgefühl auseinanderklaffen, muss der Rechtsstaat dann irgendwie eingreifen und handeln?
Farthmann: Das Rechtsgefühl ist nun ein sehr unsicherer Maßstab, das schwankt unheimlich nach den Stimmungen, peitscht hoch und klingt wieder ab. Davon sollte man sich nicht allzu sehr leiten lassen. Das gesunde Volksempfinden war schon ein Maßstab, den die Nazis einzuführen versucht haben und, Gott sei Dank, damit gescheitert sind. Also man muss schon klare, objektive Maßstäbe haben. Und wenn ein Straftatbestand erfüllt ist, ist in aller Regel dem Arbeitgeber nichts vorzuwerfen, wenn er sagt, ich hab das Vertrauen verloren zu diesem Beschäftigten. Ich glaube auch nicht, dass es für unser Rechtssystem gut ist, wenn diese ständige Aufweichung stattfindet und keiner mehr weiß, wo es eigentlich lang geht. Mich empören genauso diese Abfindungen, die da gezahlt werden für schlechte Dienstleistung, für schlechte Führungsqualitäten, wie überhaupt ich diese ganze Entlohnungsmethode bei den Spitzenfunktionen, insbesondere im Bankgewerbe, die völlig aus dem Ruder gelaufen sind und durch nichts zu rechtfertigen sind, aber die keinen dazu berechtigen, im Alltag Straftaten zu begehen und zu sagen, die da oben machen's ja noch schlimmer. Wir müssen überall klare, objektive Maßstäbe haben, alles andere führt in die Irre und führt zu einem Verludern der Rechtskultur, die nicht im Sinne einer friedfertigen Gesellschaft liegen kann.
Zurheide: Herr Farthmann, jetzt gibt's manchmal die Kritik, auf der einen Seite schützt das Arbeitsrecht vielleicht die Falschen, wenn jemand keine Leistung bringt, so heißt es manchmal, hat man kaum eine Chance, ihn rauszukriegen, und wenn man hier so einen Fall hat, wo jemand möglicherweise lange gearbeitet hat, aber eine kleine Verfehlung sich erlaubt hat, die aber hart sanktioniert wird, dann wird er rausgeschmissen. Ist da vielleicht was schief im Arbeitsrecht?
Farthmann: Ja, ich meine, nun gibt es ja immer noch die Möglichkeit, beim Urteil zu korrigieren. Und selbst wenn ein Vertrauensbruch vorliegt und ein Grund zur fristlosen Kündigung gegeben ist, kann der Einzelrichter, wenn dann entschieden wird, natürlich sagen: Also das ist nun sozusagen durch eine langjährig erworbene Vertrauensstellung und eine langjährig erworbene positive Einstellung zum Arbeitgeber ist das hinzunehmen, und da muss nun einmal drüber weg gesehen werden. Aber ich sage noch mal, es gibt ja keine klare Erkenntnis darüber, ob das das erste Mal war oder das zehnte Mal und ob es auch in Zukunft auftritt – das ist die Schwierigkeit dabei. Insofern glaube ich, sind klare Maßstäbe, sollten wir alle fordern, klare Maßstäbe ...
Zurheide: Okay, Herr Farthmann, jetzt kommen wir auf die Nachrichten. Ich bedanke mich herzlich für das Gespräch. Danke schön, Herr Farthmann!
