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Friedrich Ani: „All die unbewohnten Zimmer“
Gesellschaftspolitisches Statement gegen Rechts

Vier seiner Ermittlerfiguren aus anderen Geschichten lässt Friedrich Ani in seinem neuen Roman zusammentreffen - dramaturgisch ein echter Coup. Und die spektakulär inszenierte Geschichte um einen Polizistenmord und zwei syrische Flüchtlingskinder in München weiß bis zuletzt zu überraschen.

Von Ulrich Noller | 22.07.2019
Buchcover: Friedrich Ani: „All die unbewohnten Zimmer“
Ein Kriminalroman zur Gegenwart mit einem spektakulären Ermittler-Ensemble (Foto: imago images / Manfred Segerer, Buchcover: Suhrkamp Verlag)
München, Hauptbahnhof. Ein Ort des Kommens und Gehens – und auch einer des Bleibens. Zumindest für Ex-Kommissar Tabor Süden, den Vermisstensucher, der immer wieder hierher kommt. Einer, der andere findet, weil er sich selbst für unrettbar verloren hält. Der Münchner Hauptbahnhof: Das war schon immer ein zentraler Ort in den Geschichten von Friedrich Ani – so auch in seinem neuen Roman "All die unbewohnten Zimmer":
"Durch die Glasfront, die den Restaurantbereich von der Halle trennte, sah er zu den Gleisen. Eine Frau in einem knöchellangen Mantel und mit einer tief ins Gesicht gezogenen roten Mütze schob einen alten Kinderwagen vor sich her; ab und zu warf sie einen Blick in einen Müllbehälter, wie nebenbei entdeckte sie eine leere Dose oder Flasche, zog sie sie heraus und verstaute sie im Wagen; unaufhörlich bewegte sich ihr Mund."
Vier Ani-Detektive ermitteln gleichzeitig
Er, der Beobachter: Das ist in dieser Szene Jakob Franck, ein pensionierter Mordermittler. Der Experte im Überbringen von Todesnachrichten; ein Job, den die Kollegen aus seinem alten Dezernat ihm trotz Pensionierung immer noch allzu gern überlassen. Wie Tabor Süden ist auch Jakob Franck ein typisch ungewöhnlicher, unzeitgemäßer "Held" aus dem Ani'schen Erzähluniversum. Wenn auch aus anderen Geschichten. Die Begegnung zweier Ani-Ermittler, die bis dahin noch nichts von der Ermittlung des jeweils anderen wissen, kann aber natürlich kein Zufall sein.
"'Das ist Lisa', sagte der Mann neben Jakob Franck; er betrachtete das Bier in seinem Glas, presste den Bauch gegen die Tresenkante und warf einen Blick auf die Abendausgabe einer Boulevardzeitung, die neben ihm auf der Theke lag; die Schlagzeile vermeldete den Mord an einem jungen Polizisten. Er wandte sich dem neuen Gast zu. 'Was schätzen Sie, wie viele Obdachlose in der Stadt leben', sagte Franck.
'Lisa ist nicht obdachlos.'"
Tabor Süden, der Vermisstensucher und Francks "zufälliger" Trinknachbar hier am Tresen, weiß das. Schließlich hat er Lisa gerade gefunden, Auftrag erledigt. Oder doch nicht? Jakob Franck kommt dagegen gerade vom Vater des ermordeten Polizisten. Ein Mord, der für viel Gerede und Aufregung, insbesondere in den Boulevardblättern sorgt. Was die zwei Ani-Ermittler zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Beide Fälle hängen zusammen. Und sind Teil eines größeren Ganzen.
"Die beiden Kinder rannten um ihr Leben. Der Kleine stolperte andauernd; sein Mund war voller Staub und giftiger Luft; er schrie gegen die Sirenen an; seine Stimme war erst drei Jahre alt und schon so kräftig, dass sie in der Gasse mit den hohen Steinmauern ein Echo auslöste. Hasim hörte seine Stimme zurückkommen wie das Donnern der Flugzeuge; bäuchlings auf dem Kopfsteinpflaster liegend, brüllte er in die Nacht."
Zwei syrische Flüchtlingsjungs und ein toter Polizist
Zwei Jungs aus Aleppo, die Mutter gestorben, der Vater hat es mit ihnen nach München geschafft. Sechs Jahre später beobachtet ein Streifenpolizist, wie einer der beiden einen Apfel stiehlt und macht sich an die Verfolgung der Jungen. Gegen den Tagesauftrag. Denn in der Nähe findet eine rechtsnationale Demonstration statt, deren Umfeld abgesichert werden soll. Wenige Augenblicke später wird der Polizist tot aufgefunden. In einer kleinen Gasse. Erschlagen. Das ist der zentrale Fall, von dem Friedrich Ani auf mehreren zeitlichen Ebenen und aus mehreren Perspektiven erzählt. An dem Fall arbeiten unabhängig von Franck und Süden nämlich auch noch zwei weitere der merkwürdigen Ermittler von Friedrich Ani – Polonius Fischer und Fariza Nasri von einem Kommissariat, das man "Die zwölf Apostel" nennt.
"Angeblich stammte die Bezeichnung mit den Aposteln vom Polizeipräsidenten. Eines Mittags war er unerwartet hereingekommen und traf die Gruppe beim andächtigen Mahl mit Textuntermalung an. Da er die Vergangenheit des Kommissariatsleiters und dessen Eigenheiten kannte, hielt seine Verblüffung sich in Grenzen, zumindest nach außen hin."
Kommissariatsleiter Polonius Fischer war einige Jahre als Mönch in einem Kloster, bevor er zur Polizei ging; Fariza Nasri, die Erzählerin in diesem Strang, Halb-Syrerin wie Autor Friedrich Ani, ist seine rechte Hand. In ihrer Abteilung sitzt man mittags schweigend zusammen, einer der Kollegen liest dazu etwas vor. Kontemplation als Polizeiarbeit - das wirkt nur auf den ersten Blick absurd, ist im Kontext der verqueren Lebensgeschichten von Tätern, Opfern und Ermittlern, denen Friedrich Ani in seinen Romanen nachspürt, letztlich durchaus plausibel. Auf jeden Fall: eine komplex angelegte Geschichte - mit vier Ermittlern, die auf drei Ermittlungsebenen unabhängig voneinander arbeiten - erst am Schluss laufen die Stränge der kühnen Konstruktion zusammen.
Hochkomplexe Geschichte mit mehreren Erzählfäden
"Um genau zu sein, hieß er Polonius Nikolaus Maria Fischer. Bestimmt hatte die Besonderheit dieses Namens nichts damit zu tun, dass Fischer mich in sein Team aufnahm und mir den Weg aus meiner elenden Verbannung ebnete. In meiner Vorstellung jedoch spielte das Detail eine Rolle. Auch ich bin nach der heiligen Jungfrau bekannt, mein vollständiger Name lautet Fariza-Marie Nasri. (...) Was mochte die Heilige Jungfrau über diese beiden Marien wohl denken? Hoffentlich nichts."
Friedrich Ani ist der erfolgreichste deutsche Kriminalschriftsteller; in den letzten siebzehn Jahren wurde er allein sechs Mal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Wie er seine verschiedenen Ermittlerfiguren aus Dutzenden Geschichten in seinem Roman "All die unbewohnten" Zimmer zusammentreffen lässt, ist dramaturgisch und choreographisch ein echter Coup. Und die spektakulär inszenierte Geschichte um einen Polizistenmord und zwei syrische Flüchtlingskinder in München, die Ani sich dafür ausgedacht hat, steht dem in nichts nach: Ungeheuer vielschichtig aus wechselnden Erzählperspektiven erzählt; ein mehrstrangiger Plot, der doch bis ins kleinste Detail aufgeht und bis zuletzt zu überraschen weiß.
"In der 'Pension Rassel' nahe dem Haidenauplatz wohnten ausschließlich Dauermieter – Männer wie Frauen – im Alter zwischen fünfzig und siebzig; gebeugte Gestalten mit schlurfendem Gang, verrutschten Stimmen und verbeulten Gesichtern. Manche Türen auf den Fluren des dreistöckigen, gedrungenen Gebäudes – schmutzig gelbe Fassade, winzige rechteckige Fenster, das Dach bedeckt mit brauen, brüchigen Schindeln – standen Tag und Nacht offen; aus den Zimmern drang gedämpft Radiomusik, unverständliches, monologisches Gemurmel, das verhuschte Piepen eines einsamen Vogels in einem Käfig. (...) 'Alles Zimmerlinge.' Süden stand auf, um frisches Bier aus dem Kühlschrank zu holen. 'Sie haben ihre eigenen vier Wände, das genügt ihnen. Frau Rassel schmeißt niemanden raus.'"
Krimi-Autor mit Faible für sozialkritische Wahrheiten
Tabor Süden bekommt Besuch von einer Ex-Kollegin, die Pension ist auch sein momentanes Zuhause. "Alles Zimmerlinge": Diese zwei Worte fokussieren nicht bloß die Essenz dieses Romans, sondern möglicherweise sogar die des kompletten Schaffens von Friedrich Ani – der immer wieder und geradezu besessen die Frage der brüchigen Identität in allen möglichen Untiefen umkreist, ausleuchtet und vermisst. Ein zweites zentrales Motiv, das sich wie ein roter Faden durch sein Werk und auch durch den neuen Roman zieht, ist der Blick auf die Umtriebe alter und neuer Rechtsradikaler. Die Art und Weise, wie in "All die unbewohnten Zimmer" beides miteinander verbunden und verschlungen ist, macht aus dieser Kriminalgeschichte einen hochaktuellen Gegenwartsroman, der auch als gesellschaftspolitisches Statement verstanden werden darf.
Friedrich Ani: "All die unbewohnten Zimmer"
Suhrkamp Verlag, Berlin. 494 Seiten, 22 Euro.