Das Schwurgericht am Berliner Landgericht hat den früheren Richter am Volksgerichtshof, Hans-Joachim Rehse, vom Vorwurf des Mordes in sieben Fällen freigesprochen.
Die offizielle Empörung darüber hält sich in Grenzen. Die SPD verfasst eine Protestnote, der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz kritisiert das Urteil im Fernsehen. Doch im studentenbewegten Berlin gehen Tausende auf die Straße. Der Autor F. C. Delius war damals unter den Demonstranten.
Es war eine ganz wilde und schräge Mischung, es war eine giftige Atmosphäre, fast ein Bürgerkriegsatmosphäre zwischen den Studenten auf der einen Seite und der großen Mehrheit der Berliner, der politischen Parteien, der Sender, der Zeitungen. Die Luft war voller Aggressionen.
Die Demonstranten regen sich noch ein paar Tage lang über den Nazi-Richter auf, dann schreiben sie sich wieder andere Parolen auf ihre Fahnen. Nicht so F. C. Delius. Für seinen Ich-Erzähler, der starke autobiographische Züge aufweist, wird Rehses Freispruch zur persönlichen Angelegenheit:
Weil die Erzählfigur sich an Rehse so aufregt, dass sie aus einem ganz intuitiven Entschluss heraus sagt: der muss umgebracht werden, der muss dafür büßen: Einer muss mal für etwas büßen! Und das ist dieser Rehse, der den Vater meines besten Freundes zu Tode gebracht hat.
Delius nutzt in "Mein Jahr als Mörder" die Figur des Skandalrichters Rehse für den Brückenschlag in die Vergangenheit, um die Geschichte der Familie Groscurth zu erzählen. Mit den beiden Groscurth-Söhnen ist er aufgewachsen und bis heute befreundet. Deshalb erfährt der Autor schon früh, dass der Vater seines besten Freundes, Georg Groscurth, im Widerstand war und von den Nazis ermordet wurde.
1933 ist Georg Groscurth Arzt im Berliner Krankenhaus Moabit. Hier arbeitet er mit dem Chemiker Robert Havemann zusammen. Ihr Labor wird zum Treffpunkt der Nazigegner des Krankenhauses, die beiden gründen die Widerstandsgruppe "Europäische Union". Diese Gruppe bleibt nach dem Krieg unbekannt und verschwindet in der Anonymität. Delius legt Groscurths Sohn bittere Worte in den Mund:
In der DDR feiern sie die paar Kommunisten, die im Widerstand waren, in Westdeutschland die paar Offiziere, die viel zu spät den Putsch versucht haben. Damit haben sie beide das Alibi, das sie brauchen. Und Leute wie mein Vater, die so viel getan und riskiert haben, fallen durch den Rost, weg damit.
Anfangs stellt sich die Gruppe rein humanitäre Aufgaben: Juden und politisch Verfolgte verstecken, falsche Papiere beschaffen, Groscurth behandelt heimlich viele Illegale in der Klinik. Junge Männer schreibt er wehruntauglich, er knüpft Kontakte zu ausländischen Widerstandsorganisationen.
Zu seinen Privatpatienten zählen andererseits viele Nazigrößen, unter anderem Hitlers Stellvertreter Rudolf Hess. Ein guter Arzt ist für den Hypochonder Hess gleichzeitig eine Person, der man uneingeschränkt vertrauen kann. So plaudert er unter anderem Einzelheiten über geheime Pläne der Nazis aus. F. C. Delius hat herausgefunden, wie die "Europäische Union" sich das zunutze machte.
Unter anderem hat Georg Groscurth und damit seine Gruppe relativ früh gewusst, dass es einen Überfall auf die Sowjetunion geben wird, das haben sie schon lange vor dem Juni gewusst. Die haben sogar versucht, auf Umwegen die Sowjets zu warnen durch Kuriere an die sowjetische Botschaft oder Handelsmission. Wie ich gelesen habe, hat Stalin mehrere solcher Warnungen bekommen, aber es nicht ernst genommen, weil er dachte: Wir haben ja diesen schönen Vertrag mit den Nazis und da wird schon nix passieren.
1943 wird die Gruppe verraten, ihre Mitglieder werden von den Nazi-Richtern Roland Freisler und Hans-Joachim Rehse zum Tode verurteilt. Nur Robert Havemann wird nicht hingerichtet, weil er im Gefängnis so genannte "kriegswichtigen Forschungen" betreiben kann. In seinem letzten Brief schreibt Georg Groscurth an seine Frau:
Liebe gute treue Anneliese. Nun ist es soweit, in einer halben Stunde wird das Urteil gefällt. Ich bin ganz gefasst, weil ich ja immer damit gerechnet habe. Sie rappeln schon mit den Schlüsseln! Lass Dich umarmen. Denke daran, dass wir für eine bessere Zukunft sterben, für ein Leben ohne Menschenhass.
Anneliese Groscurth, ebenfalls Ärztin, hat diesen zutiefst humanistischen Auftrag ihres Mannes verinnerlicht. In diesem Geist erzieht sie ihre Kinder, diese Grundhaltung prägt ihre politische Überzeugung: Nie wieder Nazis, nie wieder Krieg! Deshalb sitzt sie am 28. April 1951 in einem Kreis von 20 Frauen und Männern, die einen Berliner Ausschuss für die Volksbefragung gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik gründen. Zwei Tage später, am 30 April, wird die Volksbefragung verboten, weil sie "ein massiver Angriff auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung" sei.
In der Presse geht eine beispiellose Kampagne los. Anneliese Groscurths Arztpraxis, in deren Wartezimmer eine kleine Pressekonferenz stattfinden sollte, wird in den Schlagzeilen zur "Kommunistenfiliale in Westberlin", sie selbst zur "Roten Propagandistin". Und das, obwohl sie selbst nie Kommunistin war.
Sie hat gesagt, die Kommunisten sind für den Frieden – also man kann drüber streiten ob sie es wirklich waren, aber das war die Sprache und sie sind gegen die Nazis. Und so kam sie in die Mühlen des Kalten Krieges hinein. Ich bin, glaube ich, der erste gewesen, der diese ganzen Prozessakten mal durchgewühlt hat und studiert hat, um am Ende festzustellen, dass insgesamt 33 Richter im Laufe von 12, 15 Jahren über diese Frau hergefallen sind und sie zu einer kommunistischen Hexe erklärt haben. Und das wird dann in dem Buch ausgebreitet.
Delius nennt die Nachkriegs-Justiz, die Anneliese Groscurth mit Prozessen überzieht, eine "Hydra". Diese vielköpfige Hydra wirft ihr vor, gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu agitieren. Sie verliert ihren Job als Amtsärztin, ihre Witwenrente, den Status als Verfolgte des Naziregimes, sogar die Waisenrente ihrer Kinder. Sie soll, ihrer Existenzgrundlage im Westen beraubt, gezwungen werden, "rüber zu gehen", in die DDR. Doch Anneliese Groscurth lässt sich nicht abschieben.
Ärzte sind gesucht in Ostberlin, sie könnte die besten Stellen kriegen, sie hätte Ruhe vor den nächtlichen Anrufen, vor den schweinischen Briefen, die Söhne würden nicht mehr angepöbelt: Mit Kommunisten spiel ich nicht! In den Zeitungen drüben schreiben sie schon über die tapfere Frau Doktor, sie passt gut in die Propaganda. Aber es bleibt die Scheu vor dem Osten, da geht es auch nicht demokratisch zu, da verschwinden die Leute, da fliehen nicht nur Faschisten, da könnte sie noch mehr zwischen die Fronten geraten.
Erst in den 70er Jahren wird Anneliese Groscurth rehabilitiert. Für Delius Delius Ich-Erzähler eine späte Genugtuung.
Delius verwebt geschickt die fiktive Figur des Ich-Erzählers mit den genau recherchierten und präzise bewerteten historischen Fakten. So schreibt er nicht nur eine Familiensaga, sondern ein Familienschicksal, wie es nur die deutsche Geschichte hervorbringen konnte. An seiner Kunstfigur lässt sich gleichzeitig die große Schwäche des dokumentarischen Romans festmachen. So überzeugend die Motive des Ich-Erzählers, so hölzern sind zuweilen die Dialoge mit seiner Freundin, die allzu oft in ein reines Faktenabfragen münden. Doch Delius, der weniger als Poet denn als Zeitgeschichtserzähler und Spezialist für historische Rückblenden gilt, schafft wieder einmal ein präzise ausgeführtes Epochengemälde der 40er, 50er und 60er Jahre. Ein wichtiges Buch, in dem es um Schuld und Sühne, um Empörung und Rache geht.
Meine Arbeit war, die Geschichten auszubreiten, soweit man das kann und sie zu subjektivieren, d.h. durch einen subjektiven Blick eines Empörten. Und ich denke, wenn man als Leser diese Empörung versteht, dann habe ich meine Arbeit gut gemacht.
Anne Worst über Friedrich Christian Delius: Mein Jahr als Mörder. Der Roman ist bei Rowohlt Berlin erschienen, das Buch ist 304 Seiten stark und kostet 19,90 EUR.