Samstag, 20. April 2024

Archiv


Friedrich II. und seine Zeit

Ich deklinierte mit meinem Lehrer: mensa, -sae, dominus, -i, ardor, -ris, als plötzlich mein Vater ins Zimmer trat. 'Was machst du da?' - 'Papa, ich dekliniere mensa, -ae', sagte ich in kindlichem Tone, der ihn hätte rühren müssen. 'O du Schurke, Latein für meinen Sohn! Geh mir aus den Augen!' und verabreichte meinem Lehrer eine Tracht Prügel und Fußtritte und beförderte ihn auf diese grausame Weise ins Nebenzimmer (...) Ich zittere noch mehr; er packt mich an den Haaren, zieht mich unter dem Tisch hervor, schleppt mich so bis in die Mitte des Zimmers und versetzt mir endlich einige Ohrfeigen: 'Komm mir wieder mit deiner mensa, und du wirst sehen, wie ich dir den Kopf zurechtsetze.'

Von Florian Felix Weih | 30.01.2005
    So kennen wir die Geschichte. Der jähzornige Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I., der auf die Neigungen seines zart besaiteten Sohnes keine Rücksicht nimmt, weil ein künftiger Herrscher fest im Glauben und soldatisch in der Lebensführung zu sein habe - dazu bedarf es keiner klügelnden Lateinkenntnisse. Und der zwischen Aufsässigkeit und Gebrochenheit schwankende Kronprinz, der bei der Hinrichtung seines Fluchtkumpans Katte kollabiert, jedoch zugleich auf brachiale Weise lernt - und annimmt! -, was ihm sein Stand an Bürden auferlegt. Die Härte des Vaters übertrifft er im späteren Leben durch skrupellose Machtpolitik noch vielfach, doch verschwinden die weichen, intellektuellen Seiten nie. Wer ist diese häufig verklärte und ebenso oft verdammte historische Persönlichkeit, die aus dem politischen Ränkespiel des 18. Jahrhunderts neben zwei Frauen - Maria Theresia und Katharina der Großen - wie ein Leuchtturm herausragt? Die historische Wissenschaft hat seit Dekaden einen Bogen um diesen Mann gemacht. Über Friedrich II. zu schreiben, ist zwar einerseits attraktiv, weil es die Aufmerksamkeit des breiten Publikums garantiert, andererseits aber problematisch, denn wo wäre der Gegenstand noch unverfälscht zu bekommen? Selbst wer zu den Quellen zurückkehrt, findet diese nur in einem breiten Überschwemmungsgebiet aus wahrgenommenen und verinnerlichten Interpretationen, Urteilen und Vorurteilen, Mythen und Klischees vor. Selbst der objektivste unter den objektiven Historikern kann nicht mehr zum Urgrund der Wahrheit hinabtauchen. Johannes Kunisch allerdings wagt das Unterfangen, nicht nur ein komplexes Bild der deutschen, ja europäischen Staatenverhältnisse im 18. Jahrhundert zu zeichnen (die im ancien régime der vorrevolutionären Zeit immer zugleich Familienverhältnisse waren), sondern auch die persönlichen Antriebskräfte des preußischen Königs aufzuspüren:

    Unbestreitbar ist gewiss, dass gerade die Ruhmbegierde und das Streben nach Unsterblichkeit ein altes, auf antikes Denken zurückgehendes Motiv waren, das in besonderer Weise auch die Fürstenethik der Frühen Neuzeit geprägt hat. (...) Doch tritt die Idee des Ruhmes als bewegender Kraft menschlicher Größe bei Friedrich mit solcher Emphase in Erscheinung, dass sie ohne Zweifel zu einem seiner höchst persönlichen Handlungsimpulse zu zählen ist.

    Die Zeiten darf man sich nicht als gemütlich vorstellen; auch nicht für Herrscher. Ihre Ländereien lagen oft verstreut auseinander und bildeten als Ergebnis von Erbfällen, Kriegszügen und ehelichen Zugewinnen kaum je einen einheitlichen Kulturraum. In diesem Bezugssystem war wenig fixiert und vieles schwankend - wer zu spät kam, den bestrafte das Leben. Vulgo: die Nachbarschaft.

    Kennzeichnend für das Staatensystem des 17. und 18. Jahrhunderts war (...) eine permanente, sich zyklisch immer wieder verschärfende Rivalität. Die Ursache dieser dauernden Gespanntheit der politischen Lage war ein vielfach mit elementarer Gewalt hervortretender Geltungsanspruch einzelner Fürsten und die immer latente Habsucht der Dynastien. Beide Triebkräfte konnten zeitweise alle Anstrengungen von Staat und Gesellschaft in Besitz nehmen, auch wenn (...) mit mehr oder weniger großem Geschick versucht wurde, sie mit höherer Legitimation und einem Schein von Rechtmäßigkeit zu umkleiden.

    Nein, der Spätabsolutismus muss als Epoche der Willkür angesehen werden, der nun vom Preußenkönig eine neue Spielart hinzugefügt wurde, die sich aus seinen intellektuellen Neigungen und deren praktischem Niederschlag in philosophischen Schriften und Korrespondenzen ergab: der Aufgeklärte Absolutismus. Dessen intellektuelle Bezweifelung überkommener Machtsetzungen wirkte sich allerdings kaum in der Praxis aus:

    In der Konsequenz einer solchen Staatsräson hätte es dann liegen müssen, dass die Monarchen ihre überlieferten Machtpositionen freiwillig räumten und in eine konstitutionelle Begrenzung ihrer Herrschaftsbefugnisse einwilligten. Da jedoch eine Selbstbeschränkung der Fürsten aus wirklicher Einsicht und der Anerkennung individueller Freiheitsrechte am Beharrungsvermögen der bestehenden Verhältnisse gescheitert sei, biete der Aufgeklärte Absolutismus ein Bild der Inkonsequenz und Widersprüchlichkeit.

    Da wären wir beim Leitmotiv, das den Epochenmacher Friedrich II. wie seine Epoche auszeichnet: Inkonsequenz und Widersprüchlichkeit. Als Staatendenker und Verwaltungsreformer, als Schöngeist und philosophischer Briefpartner von Voltaire und anderen Geistesgrößen zeigte Friedrich ein komplett anderes Gesicht denn als Machtzyniker, Feldherr und hegemonialer Herrscher. Die Sphären, die er selbst fein säuberlich voneinander trennte, durfte auch kein anderer zusammendenken. So konnte er - noch als Kronprinz - hochmoralisch tönen ...

    Es ist eine Schmach und Schande, seine Staaten zugrunde zu richten, und eine Ungerechtigkeit, eine verbrecherische Raubgier, etwas zu erobern, worauf man keinen rechtlichen Anspruch besitzt.

    ... um dann, kaum im Besitz der Macht, zu seinem ersten schlesischen Angriffskrieg aufzubrechen, der zwar glückhaft gewonnen wurde, jedoch zwei weitere langwierige Waffengänge nach sich zog, in deren Verlauf rund eine halbe Million Menschen sterben musste. Wagte es dagegen Voltaire, im Siebenjährigen Krieg Einwände gegen diese Politik vorzubringen, musste er sich eine geharnischte Standpauke anhören:

    Lernen Sie", herrschte er Voltaire in einem Brief aus dem Sommer des sich verhängnisvoll zuspitzenden Feldzugsjahres 1759 an, noch "in Ihrem Alter, welcher Stil Ihnen zukommt, wenn Sie mir schreiben. Begreifen Sie, dass es für Literaten und Schöngeister erlaubte Freiheiten und unerlaubte Unverschämtheiten gibt. Werden Sie endlich Philosoph, das heißt: vernünftig. Möge der Himmel, der Ihnen soviel Esprit verliehen hat, Ihnen ebenso viel Urteilsvermögen zuteil werden lassen!

    Der Herrscher selbst darf seine Spaltungen zur Schau stellen, andere dürfen sie nicht mal erwähnen. Dies schreit nach Erläuterungen durch den Biographen. Doch bevor wir uns ihnen zuwenden, stellt sich die Frage, in welches Genre das Buch angesichts seiner erschlagenden Materialfülle und der durchgängigen Vogelperspektive auf Strukturen und Prozesse, weniger auf Menschen und ihre Lebensumstände, eigentlich gehört? Der Autor kokettiert im Prolog mit der leichten Muse:

    So soll in dieser Lebensgeschichte auch das Nichtauflösbare, das Nichtexzeptionelle und das Rhapsodisch-Beiläufige der hier geschilderten Herrscherpersönlichkeit zur Sprache kommen.

    "Rhapsodisch-beiläufig" lässt einem das Wasser im Munde zusammenlaufen, Johannes Kunisch ist indes emeritierter Fachhistoriker, eminent kundiger Experte fürs 18. Jahrhundert, jedoch alles andere als ein geübter Erzähler. Nur einmal lässt seine strenge Wissenschaftlichkeit einen wunderlichen Ausflug zu. Der Faktenfreund, dem Quellenforschung über plastische Beschreibung geht, Datengenauigkeit über Lebendigkeit, nimmt spekulative Anleihen auf:

    Aus psychoanalytischer Sicht trägt die Selbstverwirklichungsbesessenheit des Königs indessen auch Züge zwanghafter Reflexe. So identifizierte er sich in der Mächtekonstellation des Jahres 1740 vollständig mit dem durch habsburgische Missgunst mehrfach gedemütigten Vater und trat selbstbewusst und herausfordernd wie sein Rächer in Erscheinung. Dadurch gelang es ihm zugleich, sich als Politiker und vor allem als Feldherr über den Vater zu erheben und Dinge ins Lot zu rücken, unter denen er erwiesenermaßen auch selbst gelitten hatte. Es hat den Anschein, als wenn er von seiner psychischen Konstitution her gar nicht anders konnte, als in der offensichtlich seit langem herbeigesehnten Krise des österreichischen Erbfalls zu den Waffen zu greifen und vor der Entfesselung eines allgemeinen Krieges vollendete Tatsachen zu schaffen.

    Friedrich selbst hat seinen Wandel vom Schreibtischmoralisten zum pragmatischen Machtzyniker indes ganz schlüssig begründet. Nicht eben fein, aber auch für heutige Menschen als zur Spitze getriebener Utiliarismus nachvollziehbar. Auch darin war er seiner Zeit voraus:

    Wenn man sich, schrieb er, im Vorteil befinde: Müsse man sich das zunutze machen oder nicht? "Ich habe meine Truppen und alles übrige in Bereitschaft; bringe ich meinen Vorteil nicht zur Geltung, so halte ich in meinen Händen ein Gut (bien), dessen Nutzen ich verkenne; nehme ich ihn wahr, wird es von mir heißen, dass ich mich mit Geschick der Überlegenheit über meinen Nachbarn zu bedienen verstehe."

    Seltsam modisch, einer schon verblassten Mode hinterherzurennen und sich der Psychoanalyse zu bedienen, wo Skeptiker nur missliche Zufälle erkennen können, etwa bei der Flucht des 18-jährigen Kronprinzen vor seinem Vater:

    Auch der auffällige rote Rock, den Friedrich in den Morgenstunden des schicksalhaften 5. August trug und dessen Farbe dem Vater generell ein Dorn im Auge war, könnte als Indiz dafür gewertet werden, dass hier lediglich ein Kräftemessen und keine Trennung beabsichtigt war. Als besonders fatal erwies sich jedoch, dass der Brief, in dem Friedrich seinem Komplizen Katte seine Fluchtabsichten erläuterte, so unzureichend adressiert war, dass er dem namensgleichen Vetter des Freundes ausgehändigt wurde. So konnte das Komplott aufgedeckt werden, bevor das Fluchtvorhaben ausgeführt war. Das ganze Szenarium der Flucht, meint der Psychoanalytiker Ernst Lürßen, zwinge demnach zu der Frage, ob der Kronprinz das Entkommen wirklich gewollt habe oder ob es sich nicht vielmehr um eine bewusst herbeigeführte, provozierende Zuspitzung des gegenseitigen Verhältnisses handelte - um einen Machtkampf also, der aus der Sicht des Kronprinzen vielleicht unbewusst, aber mit erschreckender Konsequenz zutage fördern sollte, ob der Vater wirklich bis zum Äußersten gehen und seine mörderischen Drohungen wahrmachen würde.

    Wunderlich fürwahr! Denn die Anwendung der im bürgerlichen Milieu verwurzelten psychoanalytischen Denkfiguren auf zweihundert Jahre zuvor stattgefundene Ereignisse ist zutiefst ahistorisch - mindestens so ahistorisch wie die Anlegung "absoluter Normen" der Moral an Friedrich den Großen, was Johannes Kunisch energisch ablehnt. In einem regierenden Fürstenhaus herrschte zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine gänzlich andere psychosoziale Situation als in einer großbürgerlichen Familie Ende des 19. Jahrhunderts, und die Psychoanalyse hat keine beliebig anwendbaren Gesetze entdeckt, sondern atmet den Geist ihrer Zeit und ihrer Herkunft. Nur den! Der Umgang des Soldatenkönig mit seinem Sohn stand in einem hoch komplexen dynastischen, ja staatstheoretischen Kontext und wurde von beiden auch so begriffen, was Johannes Kunisch eindrucksvoll belegt. Jenseits dieses Lapsus bleibt er indes ein auffallend meinungsschwacher Biograph. Über die Wirkung Friedrichs des Großen auf nachfolgende Generationen kein Wort, und was die Einordnung von Friedrichs praktiziertem Raubrittertum angeht, findet sich nur einmal eine wertende Bemerkung, der man indes die Überwindung anmerkt, die sie den Historiker niederzuschreiben kostet:

    In der Tat geht es hier um ein Ereignis, das den Historiker aus seiner scheinbar der objektiven Berichterstattung verpflichteten Reserve herauszutreten nötigt. Denn um Willkür und Unrecht handelte es sich.

    Gemeint ist an dieser Stelle die Aufteilung Polens zwischen Österreich, Preußen und Russland, die 1772 am grünen Tisch beschlossen wurde, ohne dass zuvor blutige Schlachten stattgefunden hätten. De jure war das zwar eine große Unverfrorenheit, doch "Willkür und Unrecht" ließe sich selbst bei rechtspositivistischer Sicht in vielen Unternehmungen Friedrichs entdecken. Selbst dort, wo heute noch die Meinung vorherrscht, er habe den Rechtsstaat mit persönlichem Einsatz gegen korrupte Richter verteidigt, sehen die Fakten möglicherweise anders aus. Der berühmte Fall des "Müllers Arnold", den sämtliche Gerichtsinstanzen zugunsten seines höher gestellten Pächters verurteilten, scheint nämlich gar nicht eindeutig zu sein:

    Auffallend ist, dass in der rechtswissenschaftlichen Literatur, die sich selbstverständlich ausführlich mit dem Prozess gegen den Müller Arnold beschäftigt hat, nicht erörtert wird, warum alle Justizkollegien, die mit dieser Angelegenheit befasst waren, einhellig zu der Auffassung gelangten, dass der Müller schuldig war. Dem Historiker jedenfalls bleibt unklar, wie die Rechtslage tatsächlich eingeschätzt werden muss.

    Der König indes sah eine Rechtsbeugung, die er eigenhändig und brachial behob, womit er gegen seine mehrfach bekundete Auffassung verstieß, ein Herrscher solle die Auslegung der Gesetze der Justiz überlassen. Einer Justiz, die er zugleich nicht sonderlich litt:

    Meint Ihr denn, dass ich Eure Advokaten-Streiche nicht kenne und dass ich nicht weiß, wie man eine üble Sache verbessern und durch Hyperbolen vergrößern und verkleinern kann, wie man es à propos findet? Das Federzeug [plume] verstehet nichts.

    Nun kann man wertende Enthaltsamkeit in einer Biographie auch rühmen - das haben die Fachrezensenten getan - doch über 600 Seiten will ein historischer Laie bei der Stange gehalten werden. Ob das der Autor überhaupt beabsichtigt, lässt sich schwer sagen, denn seine ständig wiederkehrenden Verwerfungen in der Erzählperspektive und Erzählreihenfolge können eine akademische Übung in Komplexitätsbewältigung oder schlicht belletristisches Unvermögen sein. Bis ins syntaktische Gefüge hinein scheint sich der Autor nicht immer bewusst, wo er sich auf der Zeitachse gerade befindet.

    Der Friede wurde am 13. Mai 1779, dem 62. Geburtstag der Kaiserin, im österreichischen Teschen, einem Ort nahe der schlesisch-mährischen Grenze, unterzeichnet. Der König war spätestens zum Zeitpunkt des Ablebens seiner langjährigen Gegenspielerin (November 1780) zu der Überzeugung gelangt, dass Maria Theresia ihrem Thron und ihrem Geschlecht Ehre gemacht habe.

    In dieser Abfolge kommt man zum gespenstischen Schluss, dass eine bereits tote Maria Theresia den Friedensvertrag unterzeichnete. Kunisch stiehlt sich aus der Zeitfalle nur heraus, indem er das zeitlich spätere Sterbedatum in Klammern nachliefert - keine sehr elegante Fehlerkorrektur. Aber das ist symptomatisch für den ganzen Text, in dem der rote Faden des Friedrichschen Lebens so oft zugunsten von Vorgriffen und Seitenlinien aufgegeben wird, dass von Lesefreundlichkeit nicht die Rede sein kann. Eher als um eine Biographie handelt es sich um einen Meta- und Megaessay eines Historikers, der zu viel weiß, um noch auf eine Person konzentriert schreiben zu können. Die Entourage rund um den Preußenkönig bleibt blass, und Friedrich wird dort am lebendigsten, wo er in seinen Briefen selbst zu Wort kommt. Die erstmals breit gewürdigten Sexualien fallen da fast aus dem Rahmen:

    Den Auskünften seines Leibarztes Zimmermann zufolge hatte sich Friedrich kurz vor seiner Hochzeit eine Geschlechtskrankheit zugezogen. Er musste sich daraufhin einem Eingriff unterziehen, der es ihm ermöglichte, die Ehe zu vollziehen und etwa ein halbes Jahr lang Geschlechtsverkehr ohne Beeinträchtigungen zu haben. Allerdings lassen auch Zimmermanns Äußerungen eine eindeutige Diagnose nicht zu. So berichtet er von einem "äußerst heftigen venerischen Samenfluss" des Kronprinzen, der wohl als starke eitrige Absonderungen, also als Gonorrhoe gedeutet werden muss. (...) Zimmermann vermutet, dass akute Wundbrandgefahr bestanden habe und nur noch "der grausame Schnitt" mit dem Skalpell das Leben des Kronprinzen zu retten vermochte. Vorstellbar ist, dass die Beschwerden des Patienten "schankerartig" waren, wobei sich am Penis ein Geschwür oder ein Abszess gebildet haben könnte. Das würde auch die Empfehlung eines chirurgischen Eingriffs plausibel machen. Wie immer diese medizinischen Befunde auch einzuschätzen sind: Es muss vermutet werden, dass sich Friedrich von seiner Gemahlin auch wegen dieser genitalen Verstümmelung und einer vermeintlichen Zeugungsunfähigkeit zurückgezogen hat.

    Der nicht schon ausreichend vororientierte Leser wird leider auch vom Verlag im Stich gelassen; das Illustrationskonzept des Buches ist mangelhaft. So interpretiert der Autor auf Seite 379 ein Gemälde von Adolf Menzel, das nirgends abgedruckt wird; dafür findet man weiter hinten eine entbehrliche Warhol-Graphik. Es fehlen alle Selbstverständlichkeiten - Landkarten Preußens, genealogische Übersichten der erwähnten Herrscherhäuser -, während die Schlachten mit ausführlichen Karten gewürdigt werden, die allerdings nie Legenden enthalten, so dass sich nur geübte Zinnsoldatenstrategen darin zurechtfinden. Schlachtenbeschreibungen füllen überhaupt weite Passagen des Buches, was analytisch Sinn macht, aber die Lesefreude begrenzt. Nicht weil sie so brutal wären, sondern im Gegenteil, weil sie Empathie vermissen lassen. Sie sind meist streng technisch gehalten:

    Am 16. November traf er erneut bei seinen Truppen ein und überschritt am 23. November den Queisfluß, um in der Lausitz sowohl den sächsischen wie den österreichischen Verbänden Einhalt zu gebieten. Und in wenigen Tagen gelang es ihm in glänzender Manier, sowohl die Truppen von Prinz Karl als auch die bei Katholisch-Hennersdorf versammelten Sachsen so entscheidend zu dezimieren, dass die Entsendung eines Detachements von 8.500 Mann unter dem Generalleutant von Lehwaldt zu der in Sachsen operierenden "Elbe-Armee" des Alten Dessauers möglich wurde. Dieses detachierte Korps errang mit strategischer Rückendeckung durch den König am 15. Dezember einen entscheidenden Sieg über die verbündeten Sachsen und Österreicher bei Kesselsdorf.

    Diese Nüchternheit hat freilich auch ihr Gutes, denn in der Geschichte der Friedrich-Publizistik gab es genügend unappetitlichen Heroismus, von dem Johannes Kunisch weiten Abstand wahrt. Seine Studie, die sich Biographie nennt, wird wohl als historisches Standardwerk Bestand haben und - wie alle wissenschaftlichen Konvolute - manchem Leser ein leises Ächzen abringen.