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Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten.

Nun wird er abgefeiert. Wenn er das gewusst hätte! Länger als jeder andere große Denker hat er der Versuchung widerstanden, Straßen nach sich benennen zu lassen. Aber jetzt, 100 Jahre nach seinem Tod, wird das Widerständige an ihm überwältigt, Nietzsche wird kanonisiert. Dafür kann er nichts, er hat sich redlich Mühe gegeben, hat Gift und Galle gegen das Christentum gespuckt, hat Gott für tot erklärt und auch sonst kein Fettnäpfchen ausgelassen, ist wahnsinnig geworden. Aber das hilft alles nichts, irgendwann muss schliesslich jeder mal in die Schulbücher, womit sonst soll man sie füllen.

Wilhelm Schmid |
    Nietzsches 100. Todestag am 25. August 2000 ist Anlass zu zahllosen Vorträgen, Konferenzen, Buchpublikationen, Gedenkartikeln, und dafür gibt es durchaus Gründe. Nach dem Ende des 20. Jahrhunderts, das wir überlebt haben, können wir sagen: Kein Denker hat dieses Jahrhundert in seinen Grundstrukturen so vorweggedacht wie Nietzsche. Er hat die schlimmsten Befürchtungen gehegt, die, wie wir wissen, berechtigt waren; er rieb uns seine Skepsis gegen den Sozialismus unter die Nase, mit der er recht behalten hat; er ahnte den Relativismus der Werte voraus, für den sich seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert der Vorwurf der "Beliebigkeit" grösster Beliebtheit erfreut und für den Nietzsche die Formel gebrauchte: "Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt". Nietzsche, so lässt sich sagen, ist der wichtigste Denker der modernen Freiheit. Vor allem durchdachte er radikal die Reichweite dieser Freiheit, um Antworten auf ihre destruktive Dynamik zu finden, Antworten, die er nicht in einer simplen Rückkehr zu nostalgisch verklärten Zeiten suchte.

    Die Nietzsche-Chronik, die rechtzeitig zum Nietzsche-Gedenkjahr erschienen ist, hat allerdings prosaischere Inhalte. Das Gedankliche ist ihre Sache nicht, vielmehr die Bestandsaufnahme Tag für Tag. Ein ausuferndes Werk – erschöpfend in jeder Hinsicht. Alles an Bildmaterial, was nur herbeigeschafft werden kann. Alles an biographischer Information dazu, was sich nur erschliessen lässt. In der Straßenbahn kann man das nicht lesen, denn es wiegt mehrere Kilo schwer. Die Schwergewichtigkeit des Denkens hatte Nietzsche sich eigentlich anders vorgestellt. Als Gedanken mit dem größten Schwergewicht stellte er sich die Ewige Wiederkehr vor. Nun ist er selbst derjenige, der ewig wiederkehrt, und unwillkürlich drängt sich die Frage auf: Wie werden wir Nietzsche jemals wieder los? Bei soviel erschlagendem Material jedenfalls noch lange nicht. Sehen wir mal nach, was Nietzsche beispielsweise am 24. Februar 1887 gemacht, gesagt oder gedacht hat:

    "Gegen Abend aß ich in der Pension de Genève, natürlich im Freien: lauter zerrüttete Nervensysteme, mit Ausnahme der alten Pfarrerin, welche, gleich mir, guter Laune war. Für Nizza ist es ein großer Schlag: die Saison ist mit Einem Male zu Ende. (...) Die Panik in den Hotels (ist) kaum glaublich. Diese Nacht, gegen 2-3 Uhr, habe ich eine Rundtour gemacht und einige mir befreundete Personen besucht, die im Freien auf Bänken oder in Droschken, der Gefahr vorzubeugen glaubten. Mir selbst geht es gut; noch keinen Augenblick Schrecken – und sogar sehr viel Ironie! (...) Selbst an jenem Morgen des Schreckens, wo Nizza einem Tollhause glich, (habe ich) mit großer Gemüthsstille in meinem Zimmer gearbeitet (das Haus war sonst verlassen); auch ist es mir passirt, in einem Brief, den ich an jenem Tage schrieb, das Ereigniß des Tages zu vergessen."

    Welches Ereignis? Was war geschehen? Ein Erdbeben hatte die Mittelmeerküste heimgesucht. Nicht etwa ein harmloses, vielmehr eines, das 2000 Menschenleben forderte. Aber Nietzsche, ganz Philosoph, kennt eben Beben von ganz anderer Qualität auf der nach oben offenen, nämlich ins Metaphysische reichenden Richterskala des Denkens; daher seine ostentative Gelassenheit, seine demonstrative Ironie. Er befindet sich zu dieser Zeit bereits "Jenseits von Gut und Böse" – seine so betitelte Schrift, die das "Vorspiel einer Philosophie der Zukunft" darstellen sollte, ist wenige Monate zuvor erschienen, und er kann nicht verstehen, warum kaum jemand sich dafür interessiert. Es ist einer der Winter im Süden, in denen er sich zwar der "Heiterkeit des Himmels" erfreuen kann, aber dennoch entsetzlich friert, da er sich die wärmeren Südzimmer in den Pensionen nicht leisten kann. Auch andere Dinge lassen ihn frösteln. Wenige Tage nach dem Erdbeben bekommt Nietzsche Post aus Paraguay; dorthin war seine Schwester mit ihrem Mann, einem notorischen Antisemiten, ausgewandert:

    "Eben langte ein großer Brief meiner Schwester an, der das ausführlichste Bild ihrer jetzigen mühevollen, aber (...) wohlgemuthen Existenz giebt, überdies aber die entscheidende Nachricht von dem glänzend gelungenen Ankauf eines mächtigen Stück Landes bringt – eine lange erwartete Nachricht: das neue Besitzthum zu Coloniezwecken ist größer als manches deutsche Fürstenthum und voll des herrlichsten Hochwaldes: man will nämlich Holzhandel treiben, mit Argentinien, das ja keine Wälder hat. Wie ferne klingt mir das in den Ohren! Holzhandel! Südamerika! Und dabei wird selbst die antisemitische Propaganda fortgetrieben... Meine Schwester ist gründlich ‚ausgewandert', gesetzt daß sie jemals bei mir heimisch gewesen ist: was ich nicht glaube."

    So oder so ähnlich geht das über Hunderte von Seiten hinweg. Wider Willen liest man sich schliesslich doch fest in dieser großen Textauszugs- und Bildersammlung. Unausweichlich wird man Zeuge von Nietzsches Familiengeschichten, und ebenso unausweichlich nimmt man an seinem Leidensweg teil, der die andere große Konstante in seinem Leben ist. Mal muss er seine Reise wegen eines schweren Anfalls unterbrechen, dann ist er wieder für einige Tage bettlägerig oder es erfasst ihn "schwarze Melancholie" und er ist "selbst zu Spaziergängen unlustig", Zeichen höchster Not. Dazwischen blitzen immer wieder euphorische Zeiten auf: Dieser Mensch hat wahrlich die Bandbreite des Lebens zwischen Lust und Schmerz gänzlich ausgeschöpft. Vergeblich sucht man allerdings die Geschichte des Gedankens der Ewigen Wiederkehr, der doch aus der Bewältigung dieses Lebens erwachsen ist und an dessen Geburtsstunde in der Berglandschaft von Sils-Maria Nietzsche sich gerne erinnerte. Dafür finden sich köstliche Erinnerungen anderer an Nietzsche, zum Beispiel eine, die ein gewisser Theodor W. Adorno überliefert hat, der auf Nietzsches Spuren in Sils-Maria im Oberengadin wandelte: "(...) ich erfuhr vor einigen Jahren, der Seniorchef der opulenten Kolonialwarenhandlung des Ortes, Herr Zuan, habe als Kind Nietzsche noch gekannt. (...) Herbert Marcuse und ich (gingen) hin, und wurden liebenswürdig in einer Art Privatkontor empfangen. Tatsächlich konnte Herr Zuan sich erinnern. Des Näheren befragt, erzählte er, Nietzsche hätte, bei Regen wie bei gutem Wetter, einen roten Sonnenschirm getragen – anzunehmen, dass er davon Schutz gegen die Kopfschmerzen sich erhoffte. Eine Bande von Kindern, zu der auch Herr Zuan gehörte, hatte sich ein Vergnügen daraus gemacht, ihm in den zusammengefalteten Schirm Steinchen zu praktizieren, die ihm, sobald er den Schirm öffnete, auf den Kopf fielen. Drohend wäre er dann mit gehobenem Schirm hinter ihnen hergelaufen, hätte sie aber nie erwischt."

    Da ist er also, der berühmte Regenschirm, den man aus Nietzsches Nachlassfragmenten kennt, in denen er sich gelegentlich erinnert: "Ich darf meinen Regenschirm nicht vergessen" – ein Satz, an dem schon so mancher Interpret seine Kunst zu demonstrieren versucht hat. Man ahnt gar nicht, welche Epistemologie und Daseinsmetaphysik sich in Seifenstücken und Regenschirmen zu verbergen vermag. Dabei suchte der Herr nur Schutz vor der Sonne, die seinen syphilitischen Kopf malträtierte. Aber lästern wir nicht. Erfreuen wir uns an dieser Chronik, die uns so reichlich Material beschert. Vor allem das Bildmaterial ist teilweise wirklich beeindruckend. Die Photoserie zum kranken Nietzsche beispielsweise am Schluss des Bandes: Wie er willenlos an der Brust der Schwester liegt. Wie seine feingliedrige Hand unnatürlich abgewinkelt ist. Wie sein Blick aus tiefen Augenhöhlen ins Nichts geht. Zuletzt berichtet die Schwester vom Tod des noch nicht ganz 56jährigen:

    "Er schlief lange, lange Zeit; wie ich hoffte, der Genesung entgegen. Aber sein theures Antlitz veränderte sich mehr und mehr, die Schatten des Todes breiteten sich aus, der Athem wurde immer schwerer. Noch einmal schlug er seine herrlichen Augen auf. Er bewegte und schloss wieder die Lippen und blickte wie Einer, der noch Etwas zu sagen hat und zögert, es zu sagen. Und es dünkte Denen, welche ihm zusahen, dass sein Gesicht dabei leise erröthet sei. Dies dauerte eine kleine Weile: dann aber, mit einem Male, schüttelte er den Kopf, schloss freiwillig die Augen und starb."

    Zum 100. Todestag nun also dieser enzyklopädische Band. Dass das reichhaltig bebilderte, schwergewichtige Buch eine eigene, kuriose Geschichte hat, davon künden auf den 855 Seiten nur noch leise Andeutungen im Vorwort, wo von "manchmal abenteuerlichen Umständen" die Rede ist. Nichts davon, dass das Bildmaterial über viele Jahre hinweg in Geheimsafes lagerte, da es sich großenteils um nicht publiziertes Material handelte, um dessen Bestand der holländische Sammler Raymond Benders fürchtete. Jahrelang konnte der Verlag die Form nicht finden, in der dieses, wie es im Vorwort diplomatisch heisst, "gleichsam ungebändigte Material" zu publizieren war, und es war auch nicht einfach, Fragen des Copyrights zu klären, denn Benders sammelte seine Bilder in den verschiedensten Archiven nicht immer mit dem Einverständnis der Besitzer. Die Hereinnahme der Stiftung Weimarer Klassik als so genannter "Auftraggeber" zur nun vorliegenden Nietzsche-Chronik war da sicherlich hilfreich.

    Auch was die Texte angeht, gab es ursprünglich andere Planungen: Nicht eine Zusammenstellung von mehreren tausend Brief- und sonstigen Zitaten in zeitlicher Reihenfolge, sondern essayistische Darstellungen zum Leben und Denken sollten das Bildmaterial begleiten und erhellen, eine Topographie der inneren und äusseren Landschaften Nietzsches sollte entstehen. Anfang der neunziger Jahre, so weit geht das zurück, sollte Rüdiger Safranski schon mal die Einführung schreiben; Zieldatum war der 150. Geburtstag Nietzsches 1994. Aber daraus wurde nichts, aus welchen Gründen auch immer. Safranski entschied sich anders und schrieb sein eigenes Nietzsche-Buch, das nun zur rechten Zeit ebenfalls im Hanser Verlag vorliegt.

    So wurde also eine Chronik daraus, als Chronik allerdings ein Optimum, sogar das absolute Optimum. Wenn man sich Nietzsche von dieser Seite her nähern will, findet man alles, was sich nur finden lässt: Postkarten, wie Nizza im Jahre 1887 aussah, Ansichten der Häuser, in denen er wohnte, ja sogar der Türstöcke, durch die er hindurchging. Wer sich Nietzsche eher von der denkerischen Seite her nähern will, ist bei Henning Ottmann, Münchner Philosoph und Politiloge, besser aufgehoben. Alle Arbeiten Nietzsches, auch die weniger bekannten kompositorischen, finden sich hier dargestellt. Die gesamte, ausserordentlich umfangreiche Diskussion der letzten Jahrzehnte über Nietzsches Werk und seine Wirkung wird dokumentiert. Ein Glossar beleuchtet die wichtigsten Begriffe und Theorien, sodass ein wirkliches Handbuch vorliegt, das interessierten Laien ebenso wie Forschungsinteressenten sehr viel Stoff zu bieten vermag.

    Die Zeiten der vagen und allzu schwärmerischen Nietzsche-Rezeption scheinen jedenfalls definitiv zu Ende zu sein. Hatte das 20. Jahrhundert vor allem Nietzsches Freigeisterei im Blick, seine erhoffte oder befürchtete Beliebigkeit, mit der er nicht nur die Moderne, sondern auch noch die Postmoderne zu inkarnieren schien, so steht der Rezeption im 21. Jahrhundert wohl die Entdeckung eines anderen Nietzsche bevor, und erneut könnte er damit zu einem Sinnbild, nämlich zum Sinnbild einer anderen Moderne werden. Denn Nietzsche ist nicht nur der "Freigeist", sondern auch – um eine Formulierung von ihm aufzugreifen – der reife freie Geist. Er bleibt beim Nihilismus nicht stehen; der reife freie Geist ist vielmehr zur "Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung" in der Lage und gibt sich, autonom, das Gesetz, das den Selbstruin der Freiheit zu verhindern vermag. Der reife freie Geist widmet sich nicht mehr allein der Befreiung, sondern mehr noch der Praxis der Freiheit, um der Freiheit die Formen zu geben, durch die sie lebbar wird. Diese Arbeit steht uns erst noch bevor.