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Friedrich Nietzsche: Werke

Wozu , so könnte man fragen, braucht man eigentlich die cd-rom einer Nietzsche-Ausgabe, die überholt ist? Die Antwort ist vielschichtig: Die Ausgabe von Karl Schlechta gilt auch heute noch, nach der Ablösung durch die von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, als eine verdienstvolle Ausgabe, mit der die moderne NietzscheRezeption beginnt. Sie enthält insbesondere sämtliche von Nietzsche selbst veröffentlichten Schriften und auch eine umfangreiche Auswahl aus den Briefen. Hinter dieser Ausgabe steht ein Forscher besonderen Formats. Es war der Nietzsche-Biograph Werner Ross, der darauf hinwies, daß es "der 1962 erschienenen Schrift von Karl Schlechta über die verborgenen Anfänge von Nietzsches Philosophieren" bedurfte, "um nachzuweisen, daß der Wagner-Nietzsche seit 1872 >unterwandert< war von einem gefährlichen Denk-Anarchisten, daß sich also in den Gedanken des sehr viel späteren, 1878 erschienenen ersten Hauptwerkes>Menschliches, Allzumenschliches< nichts Neues hervorwagte, sondern daß darin viel ältere Gedankengänge ans eslicht kamen. "

Mathias Sträßner |
    Diese Ausgabe von Karl Schlechta ist jetzt als Bd. 31 der "Digitalen Bibliothek" auf cd-rom erschienen. Ihr Nutzen wird vor allem darin bestehen, daß Nietzsches Textcorpus auf neue Weise durchsucht werden kann. Das Text-Corpus wird zum Nadelkissen, in das wir nach Belieben mit Stichwort-Nadeln stechen, in der Hoffnung, ein interessanter Begriff könnte bei dem Autor eine unentdeckte Karriere gemacht haben. Und in der Tat versagt hier noch die neuere Ausgabe von Colli/Montinari trotz ihres guten Registers und ihrer Konkordanz. Viele wichtige Begriffe sind nicht erfasst: wer - bei Nietzsche durchaus vorhandene - Begriffe wie "Weltausstellung" oder "Heilsarmee" sucht, wer nach "ldioten" sucht, ohne den Weg über Dostojewski zu finden, wer nach "Metamorphose" oder "Labyrinth" und "Furien", nach medizinisch-psychologischen Begriffen wie "Hysterie", "Epilepsie" oder "Vivisektion" sucht - der kann bei Colli&Montinari nicht fündig werden.

    Hier ist die Situation durch Prossliners "Lexikon der Nietzsche-Zitate" - 1999 im Münchner Kastell-Verlag 1999 erschienen - zwar erheblich besser geworden, aber Vollständigkeit ist nach wie vor nicht gewährleistet.

    Hier leistet die cd-rom der Schlechta-Ausgabe eindeutig Hilfe. Beispiele mögen dies illustrieren: In Irving Yaloms Roman "Und Nietzsche weinte" aus dem Jahr 1994 fuhren Sigmund Freud und der Wiener Psychotherapeut Breuer einen fiktiven Dialog über eine Text-Stelle Nietzsches, die aus der "Fröhlichen Wissenschaft" stammen soll. Der Text heißt "Über den Steg", und natürlich haben nur die wenigsten Leser die exakte Fundstelle präsent. Wer will schon die weitere Lektüre aufschieben, nur um bei Nietzsche genau diese Stelle zu finden? Der einfache Begriff "Steg" ist aber auch in keinem Register, so daß die klassische Suche erfolglos bleiben muß. Anders mit der Suchfunktion der cd-rom, so daß man parallell zum Roman auch Nietzsche selbst entdecken kann. Oder wer einen Hinweis in Safranskis neuer Biographie überprüfen möchte, demzufolge der Begriff der"Einverleibung" nicht vor 1880 bei Nietzsche vorkommt, kann zumindest für die bei Schlechta edierten Werke einen Kontrolldurchgang machen. Dies ist gerade bei Nietzsche wichtig, weil hier viele Begriffe auf spezifische Weise nach und nach vom Autor elektrisch aufgeladen werden, bis sie sich schließlich als Blitz entladen. Den eigentlichen Erkenntniswert hat hier nur, wer die biographischen Stufen der rhetorischen Aufrüstung nachvollziehen kann.

    Noch etwas weiteres kommt hinzu: ein Begriff - wie beispielsweise der des Seiltänzers - kommt in Nietzsches "Zarathustra" sehr häufig vor. Außerhalb des .Zarathustra" aber so gut wie nicht mehr: gerade aber die exklusive Fundstelle - hier in der "Götzen-Dämmerung" - ist manchmal der Haken, an dem man die vielen anderen Belegstellen erklärend "aufhängen" kann.

    Die cd-rom der Schlechta-Ausgabe, das ist hinzuzufügen, ist einfach zu handhaben. Natürlich ist es immer noch etwas anderes, einen Text anzuklicken, oder ihn zu lesen. Aber jedem engagierteren Leser Nietzsches und jedem Nietzsche-Forscher wird diese cd-rom unschätzbare Hilfsdienste leisten, zumal die durchaus noch gültige Biographie von Curt Janz auch noch mitgeliefert wird. Für die Forschung bieten gerade die cd-rom-Ausgaben die Möglichkeit, zusätzlich zu den >Königsbegriffen der Philosophiegeschichte< verstärkt auch den>begrifflichen Mittelstand< der Philosophie zu erkunden und zu erforschen. Und dahinter verbirgt sich auch eine kleine Revolution der Textanalyse.