Donnerstag, 02. Mai 2024

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Fritz Mierau: "Mein russisches Jahrhundert"

Die Autobiographie des Slawisten Fritz Mierau, eine Studie über den Mord an den ungarischen Juden, Neuerscheinungen zur jüdischen Geschichtsschreibung, ein Abriss der Geschichte Palästinas sowie eine weitere Folge unserer Reihe "Autoren im Gefängnis". Das sind die Themen unserer heutigen Revue politischer Literatur. Am Mikrophon ist Hermann Theißen. Guten Abend.

Manfred Jäger | 01.01.1980
    Die Autobiographie des Slawisten Fritz Mierau, eine Studie über den Mord an den ungarischen Juden, Neuerscheinungen zur jüdischen Geschichtsschreibung, ein Abriss der Geschichte Palästinas sowie eine weitere Folge unserer Reihe "Autoren im Gefängnis". Das sind die Themen unserer heutigen Revue politischer Literatur. Am Mikrophon ist Hermann Theißen. Guten Abend.

    Früh vertraut mit der Experimentierlust unserer Favoriten von der "Berliner Gegen-Universität", die Lebensstil und Werkgestalt gleichermaßen prägte, fand ich zur Literatur, zur Kunst in Sowjetrussland einen Zugang, der von dem noch in den sechziger Jahren verbindlichen Kanon gründlich, wenn nicht grundsätzlich abwich. Wer diese "Gegen-Universität" bei Bertolt Brecht und im Berliner Ensemble, in den Ausstellungen von Ernst Barlach und Pablo Picasso, in den Filmen von Charlie Chaplin und Karl Valentin, in Marcel Marceaus Pantomimen und in Cocteaus "Orphee" durchlaufen hatte, konnte sich unmöglich der herrschenden Kunstauffassung anschließen. Damals galt, der Realismus triumphiere über bornierte Lebensführung und Weltsicht eines Autors und weil das am schönsten im Roman zu erleben sei, gebühre ihm unter allen Gattungen die Krone. Diesem Sieg des Weltgeists über die Beschränktheit des Subjekts musste ich meinen Respekt versagen, weil die Biographien der Russen, mit denen ich es zu tun bekam, etwas ganz anderes bereit hielten: verheerende Brüche, unverhoffte Aufstiege, furchtbare Entzweiungen, Täuschungen und Enttäuschungen, gewaltsame Tode und wunderbare Rettungen.

    Wie jemand, dem soviel Einsicht wider die Dogmen des sozialistischen Realismus eigen ist, ausgerechnet zum produktivsten und wirksamsten Slawisten der DDR avancieren konnte, davon handelt die Autobiographie, die Fritz Mierau in der Hamburger Edition Nautilus vorgelegt hat. Manfred Jäger:

    Einer der bedeutendsten deutschen Slawisten hat seine Autobiographie geschrieben. Er war der einzige seiner Zunft, dessen Arbeit von der DDR aus international in Richtung Westen ausstrahlte. Fritz Mierau fand seit Anfang der siebziger Jahre Partner und Freunde in bundesdeutschen Verlagen und Archiven. Die Behörden seines Landes sahen das ungern und voller Misstrauen. Sie legten ihm allerlei Steine in den Weg, kleine, glitschige, auf denen er ausrutschen sollte, und große Brocken, die ihm die angeblich falschen Wege, die Irrwege, versperren sollten. Irgendwie kam er immer durch. Zu schwach, die gewaltigen Hindernisse wegzuräumen, glitt er - wundersam geleitet von einer merkwürdigen inneren Sicherheit - über die Hindernisse hinweg oder flitschte zwischen ihnen hindurch. Er hatte Glück und womöglich mehrere Schutzengel. Denn die DDR-Slawistik war jahrzehntelang - bösartig ausgedrückt - die von Moskau abhängige deutsche Abteilung einer extrem ideologisierten Sowjetwissenschaft. Sie sollte die großen Aufbauepen des sozialistischen Realismus propagieren und als vorbildlich hinstellen, die Lebenswege der Dichter fälschen helfen und die Abtrünnigen verschweigen oder verdammen.

    Dabei wollte Mierau nicht mittun. Er blieb hartnäckig, aber er wurde nicht zum Fanatiker. Er war kein Held, der nach dem Prinzip "Koste es, was es wolle" vorging. Aber er testete die jeweiligen Grenzen aus, vielleicht mit der Naivität eines Parzival, die ihm seine Kontrahenten wohl auch zubilligten, wenn sie ihn nicht als hoffnungslos abschrieben, sondern als entwicklungsfähig einstuften. Er ging nicht mit dem Kopf durch die Wand, wenn er den Beton sah, aber er wusste, dass auch Beton nicht ewig hält. So behielt er den Kopf stets oben und verlor sein Ziel nicht aus dem Auge. Er hatte nun einmal beschlossen, in der DDR zu bleiben und dort weltliterarisch-kosmopolitisch zu denken. Aber er verschmähte auch andere Fluchtwege, zum Beispiel die Auswahl ungefährlicher Perioden der Literaturgeschichte. Sein Interesse galt der Moderne, ihn faszinierten die wahrhaft kreativen Avantgarden. Nicht die Bolschewiki, die sich, organisiert als KPdSU, die Avantgarde des welthistorischen Prozesses nannten. Das machte Mierau exzentrisch im doppelten Wortsinn. Er wurde zum Außenseiter, und er verfehlte die zentrale Aufgabe, die die Literaturwächter gestellt hatten. Er war originell und zog sich damit in seinem Umfeld ein gefährliches Beiwort zu. Mierau zitiert die hintergründigen Begrüßungsworte, die Stalins langjähriger Außenminister, der Volkskommissar Molotow, an den verdächtigen, 1940 schließlich hingerichteten Theatermann Meyerhold richtete: "Na, immer noch so originell?!"

    "Mein russisches Jahrhundert" nennt Mierau seine Autobiographie. Seine Sichtweise wird durch das ausgewählte, geliebte Arbeitsgebiet, die russische Moderne im 20. Jahrhundert, bestimmt. Er tritt hinter den Gegenstand seiner Beschäftigung zurück und liefert statt wichtigtuerischer Memoiren einen Arbeitsbericht, anekdotisch angereichert und poetisch inspiriert. So hat er seinen Text in drei große Kapitel eingeteilt und diese mit Ein-Wort-Überschriften versehen: "Einweihung", "Ausdehnung" und "Sammlung". -- Im ersten Teil beschreibt Mierau östliche Disposition und sächsische Erbschaft. Obwohl 1934 im schlesischen Breslau geboren, blieb ihm das Flüchtlingsschicksal erspart, denn der Vater zog 1938 mit der Familie ins sächsische Döbeln, wo er Verkaufsleiter der "Margarine-Verkaufs-Union" wurde. Nach 1945 arbeitete der Handelskaufmann in ähnlicher Funktion bei EDEKA. Er sah, dass er in der sowjetischen Zone aufs Abstellgleis geraten musste. Er teilte das seinem Schulfreund, einem erfolgreichen Fabrikanten in Witten an der Ruhr, illusionslos mit. Der parteilose Bürger, entschieden russophil gesinnt, engagierte sich aber zugleich in der "Gesellschaft für deutsch-russische Freundschaft" und hielt im Rahmen der "Nationalen Front" populärwissenschaftliche Vorträge über die Sowjetunion, als sei das seine Privatsache - Liebhaberei ohne hochpolitischen Sinn. Vom Vater will Mierau vor allem Distanz gelernt haben oder, noch genauer: den Nutzen, den ein Leben "in Muße" bringen kann. Dass der Lebenszuschnitt in Döbeln sich zivil gestalten ließ, sei aber vor allem der Mutter zu danken, einer Schneiderstochter aus Berlin-Wilmersdorf, die nach dem Tod des Vaters sogleich in ihre Geburtsstadt zog. Ihr Mutterwitz, ihre Häuslichkeit, ihre Lebenskenntnis sorgten dafür, dass die Kinder - Mierau hat noch zwei jüngere Schwestern - nie anfällig wurden für das Demonstrative, Großspurige, Vielversprechende der neuen Ordnung.

    Auch seinen alten Lehrern an der Lessing-Oberschule in Döbeln, vor allem dem Kunsterzieher Arthur Pfeifer, verdankt es Mierau, skeptisch geblieben zu sein gegenüber dem ungeheuren kommunistischen Projekt der Welterlösung. Da Bürgerkinder im Arbeiter- und Bauernstaat in die Rubrik "Sonstige" gesteckt wurden, standen die Chancen schlecht, zum Studium zugelassen zu werden und ein Stipendium zu erhalten. Mierau mag es geholfen haben, dass 1952 immer noch Russischlehrer gesucht wurden. Sein wichtigster Lehrer war Professor Bielfeldt, ein bürgerlicher Restbestand, um ihn herum gruppierten sich der Marxist Wolfgang Steinitz und seine jüngeren Aktivisten. Unter den 15 Kommilitonen seiner Seminargruppe waren nur zwei SED-Mitglieder. Zum "Seminargruppensekretär" gewählt wurde der notorisch parteilose Mierau. Was er so alles mitmachte, beschreibt er als groteskte Eskapaden, zum Beispiel die obskure Ehrenwache nach Stalins Tod. Zur Abwehr des Demonstrativen gehörte auch zu überlegen, wann die demonstrative Ablehnung sich rechtfertigte.

    Die Frechheit, mit der der Schüler Mierau den 1. Mai begangen hatte, wirkte sicher nach. Er erhielt eine schwere öffentliche Rüge, weil er, anstatt am Umzug teilzunehmen, diesen zweimal an sich habe vorbeiziehen lassen. Zur Begründung gab er an, als Einzelgänger beteilige er sich ungern an öffentlichen Kundgebungen.

    Auch wissenschaftlich blieb Mierau ein Einzelgänger. Da er nicht in die SED eintrat, war es unmöglich, in seiner Disziplin die Höhen einer akademischen Karriere zu erklimmen. Seine Beiträge zu den offiziellen literarhistorischen Großkompendien mussten spätestens dann gekippt werden, wenn die in Moskau sicherheitshalber angeforderten Gutachten eintrafen. Er wolle, so hieß es immer wieder, eine unwichtige, ja feindliche Unterströmung innerhalb der Sowjetliteratur aufwerten, also Babel, Mandelstam, Tretjakov, Pilnjak, Jessenin, die Zwetajewa, die Achmatowa und so weiter und so fort. Als Übersetzer und Herausgeber konnte er aber über die Jahre doch einiges bewegen - im immerwährenden Kleinkrieg mit den überwachenden Institutionen und im listigen Einvernehmen mit gleichgesinnten Lektoren vor allem bei Reclam Leipzig und bei Volk und Welt Berlin. Auf hundert Bücher, die erschienen, fallen hundert Projekte, die ihm unter der Hand zerschlagen wurden - auf so eine Statistik in einer Diktatur zu kommen, ist für einen Einzelkämpfer gewiss ein stolzes Resultat.

    Mierau ist nachgesagt worden, er sei ein preußischer Prinzipienreiter, eine Art Machiavelli und ein eigensinniger Schmetterlingssammler gewesen. Was sich auszuschließen scheint, passt bei ihm gut zusammen: Er war hartnäckig, listig und wählerisch. Dass ihn die beamteten Kollegen gewähren ließen, dass sie ihm von 1969 bis 1980 bei der Akademie der Wissenschaften im Zentralinstitut für Literaturgeschichte eine Nische boten, liegt wohl auch daran, dass sie an ihm bewunderten, was sie sich versagen mussten, aber auch gern getan hätten.

    Mierau war kein Theoretiker, also begegnete er den Poeten unvoreingenommen. Er konnte sich für deren Konzepte begeistern, auch wenn diese einander auszuschließen schienen. Als metaphorischer "Machiavelli" agierte er liebenswürdiger als das historische Vorbild, zumal er nicht über Machtmittel verfügte. Er zog sein Angebot zurück, wenn es als inopportun eingeschätzt wurde, aber er gab inhaltlich nicht klein bei, etwa durch entschärfendes Umschreiben. Vielmehr klopfte er zu günstigerer Zeit mit der Frechheit von einst wieder an die Türen. Und er leistete sich des Luxus des Schmetterlingssammlers, weil er sich - unabhängig von Perspektivplänen - aussuchte, worüber er schrieb.

    Mierau, der Essayist, lässt sich inspirieren von Lebensläufen und von den Orten, an denen die Dichter gelebt und gelitten haben. Nicht zufällig enthält das Buch auch ein Ortsregister. Er hat keine Angst vor dem "Biographismus", und er glaubt daran, auf Reisen, durch die Begegnung mit Landschaften und Zeitzeugen hilfreiche Einsichten zu gewinnen. In Russland und Georgien erlebte er früh den Kontrast von imperialem propagandistischen Anspruch und schwierigem Alltag - er lernte daraus, dass das Zusammenleben vor allem vom Verhalten der einzelnen abhängt. Da Mierau sich mit dem Prager Frühling 1968 solidarisierte und 1976 die Ausbürgerung Biermanns öffentlich missbilligte, observierte ihn die Stasi intensiv. Er erzählt davon unaufgeregt und sachlich, was auch heißt, dass er die Klarnamen der Spitzel nicht verschweigt. Als Anhänger einer ganzheitlichen Weltsicht ließ er sich nicht gern auf begrenzte Spezialgebiete abdrängen. Der Slawist interessierte sich - sozusagen fachfremd - auch für einen merkwürdigen Anarchisten namens Franz Jung. Dessen Witwe, Cläre Jung, lebte inmitten eines reichhaltigen Archivs in der DDR. Wie die Greisin um ihr Verfügungsrecht über das Material gebracht wird, ist ein spannendes Kapitel, in dem der nach der Kommunistischen Internationale benannte IM "Komin", der Historiker Erwin Gülzow, eine üble Rolle spielt. Mierau und seine Frau Sieglinde wurden verdächtigt, die im Nachlass Jungs enthaltenen feindlichen Auffassungen in der DDR verbreiten und ins Ausland übergeben zu wollen. Hinzu kam, dass der Observierte der illegalen Untergrundzeitschrift "Mikado" Beiträge überließ. Dadurch lernte Mierau die Autoren Adolf Endler und Lothar Trolle näher kennen, denen er lesenswerte Kurzporträts widmet. Im letzten Jahrzehnt hat er sich sehr intensiv mit dem Nachlass Pawel Florenskis beschäftigt, eines christlichen Universalgelehrten, der 1937 dem Stalinschen Terror zum Opfer fiel.

    Mierau wies die Anwerbungsversuche der Staatssicherheit kühl zurück, er erzählte alles gleich seiner Frau, und die Stasi resignierte: Dieser parteilose Mensch war nicht zu erpressen. Der von Mierau bewunderte, in den fünfziger Jahren mit Erich Loest befreundete Slawist Ralf Schröder ließ sich in der Haft anwerben, es war nach fast sieben Zuchthausjahren Bedingung für eine Amnestie. Der sich als Partisan verstehende Schröder meinte, sich den Luxus der sauberen Hände nicht leisten zu können. Mierau zeigt Verständnis für eine solche Entscheidung, denn der Marxist Schröder setzte geschichtsphilosophisch auf künftige bessere Zeiten und wollte ihnen auch "kompromisslerisch" zuarbeiten. Dem politischen Ex-Häftling wurde wissenschaftliche Arbeit, gar Lehrtätigkeit untersagt, so kroch er im Verlag "Volk und Welt" unter und setzte dort seine "Wühlarbeit" fort.

    Mierau vergisst nicht, dass er es leichter hatte, weil er die spekulative Idee eines welthistorischen Fortschritts nicht angenommen hatte. Er hält es sich nicht besserwisserisch zugute. Manche Gleichaltrige aus der verflossenen DDR sollten dennoch beim Lesen einer solchen Bilanz darüber nachdenken, warum sie sich enthusiastisch und blind oder halbblind dem neuen Angebot hingaben und warum sie sich nur allmählich und manchmal nur halbherzig desillusionieren ließen.

    Manfred Jäger über Fritz Mieraus Autobiographie "Mein russisches Jahrhundert". Der Band ist in Hamburg in der Edition Nautilus erschienen, umfasst 316 Seiten und kostet EUR 19.90.