Aber wie sollen wir bitte mit einem Autor umgehen, der uns "kühle Religionen" vorsetzt? Ist die Koppelung von "Religion" und "Kühle" nicht ein merkwürdiges Paradoxon? Ist Religion nicht die heißeste aller Materien, erhitzt durch Inbrunst und Hingabe, durch starke Affekte und Moralismen, durch Wünsche nach Erlösung und letztgültiger Wahrheit? Hier aber setzt jemand eine Gegenfigur, hier widerruft der Dichter Hans Thill den Zusammenhang von Religion und Wärmestrom und setzt in großen gelben Lettern einen paradoxen Titel auf den Umschlag eines blauen Gedichtbuchs: "Kühle Religionen".
Wer im Titelgedicht dieses Buches nach dem Geheimnis dieser "kühlen Religionen" forschen will, der wird zunächst auf topographische Gegebenheiten verwiesen, auf "Berge", auf "eine Unebenheit zwischen Wasserläufen" und schließlich auf "einsamere Gegenden". Der "heilige Berg", der dann in der Schlussstrophe besungen wird, erweist sich als ziemlich ungemütlicher, rauer Ort, dessen Fremdheit sich nicht dechiffrieren lässt:
heiliger Berg klotziger zugiger
Brautkörper Gräber weithin zu sehen
und Türme alle gleichnamig dazwischen
unverständliche Dialekte zu lesen.
Da ist also zunächst etwas "Unverständliches" im "Heiligen" verborgen. Man muss, um weiter zu sehen, einige Schritte zurück gehen, nämlich bis ins 17. Jahrhundert, um eine Gestalt zu entdecken, die uns mit der einschüchternden Wirkungskraft der "kühlen Religionen" vertraut macht. Dort finden wir im Jahr 1674 zunächst in Breslau, dann in der holländischen Universitätsstadt Leiden einen Mann von ungeheurem Geltungsbedürfnis, dem soeben eine göttliche Offenbarung widerfahren ist. Soeben noch hat sich dieser gerade mal 23jährige Mann, ein unerhört fanatischer Bücherleser, mit dem Plan befasst, in einer Enzyklopädie von neunzehn Bänden alles erreichbare Wissen über die Welt zusammenzufassen. Nun hat er die Schriften des Mystikers Jakob Böhme verschlungen, und sofort glaubt er, mit der ingeniösen Legitimation ausgestattet zu sein, als ein von Gott Erwählter im Alleingang den Kampf gegen den Antichrist zu führen.
Quirinus Kuhlmann heisst dieser bizarre Mann – und er verwandelt sich in diesem Jahr 1674 in einen der eigensinnigsten Religionsstifter der Neuzeit. In unheimlichem Sendungsbewusstsein verfasst er in den folgenden Jahren ein poetisch-theologisches Werk, das eine neue Heilsgeschichte ins Leben ruft: den sogenannten "Kühlpsalter". Schon der hochfahrende Anfang dieses "Kühlpsalters" verrät den sprachmystischen Absolutismus, mit dem Quirinus Kuhlmann seinen Zeitgenossen die frohe Botschaft nahe bringen wollte. "Der Kühlpsalter", heisst es da, "ist di Erfüllung aller Kühlpropheten, Kühlweisen, Kühlschrifftgelaehrten..."
Anschließend folgt eine Erläuterung zur Struktur des "Kühlpsalters": "Di ersten 7 Bücher bringen wesentlich fort di 7 Planeten und 7 Lebensgeister innerlich und euserlich; nicht nur allein di 7 Proben. Ides Buch bestehet aus Funffzehn Kühlpsalmen, deren erste 7 di eusere gestalt, und letzte 7 di innere gestalt; der mittelste aber das Centrum zwischen beiden darstellt."
Nach diesen Vorstudien über die zahlenmystische Begeisterung von Quirinus Kuhlmanns "Kühlpsalter" wird die Feststellung kaum überraschen, dass auch Hans Thills Gedichtbuch "Kühle Religionen" aus insgesamt 7 Zyklen bzw. 7 Projekten besteht. Statt ausgedehntem Gotteslob in planetarischer Dimension präsentiert Hans Thill in seiner eigenen Siebener-Ordnung der "Kühlen Religionen" ganz unterschiedliche Sprach- und Motivfelder, auf denen sich das Erhabene und das Banale, das Heilige und das Profane zu ungewöhnlichen Legierungen verbinden. Das beginnt mit surrealistisch aufblitzenden Momentaufnahmen aus der eigenen Kindheit (dem Zyklus "In der Eile"); das setzt sich fort mit einem Ausflug auf orientalische Schauplätze, um nach Begegnungen mit dem "Pariser Luftleben" der Erz-Surrealisten Philippe und Re Soupault und nach schönen Exkursen über Substanzen ("Stein", "Luft" oder "Baumwolle") wieder zu den Bildgründen der Religion zurückzukehren, etwa im Zyklus "Lotterbibel".
Von der großen theologische Ordnung, mit der ein Kuhlmann die globale Bekehrung der Ungläubigen erzwingen wollte, ist in den "Kühlen Religionen" nichts mehr übrig geblieben. Wenn ein Quirinus Kuhlmann noch jubilieren kann: "O Jesu Christ, du wahres A und Zett"! / Der Erst und Letzt, an den ich angekett!" – da folgt Hans Thill den eigensinnigen Assonanzen und Assoziationen im "alphabetischen Lärm", wie er das gleichzeitige Sich-Überkreuzen unterschiedlichster Sprachen nennt. Er vernimmt zwar noch das göttliche "A und Zett", aber er lauscht nicht mehr den Wahrheitsansprüchen dieser göttlichen Rede, sondern ihren Klangreizen, ihren semantischen Oszillationen und ihrer kühnen Bildlichkeit. Diese Gedichte leben vom fortdauernden inneren Widerstreit zwischen dem hohen Ton und seiner ironischen Entzauberung. Sie spielen mit den Geltungsansprüchen der Metapher, die von einer markanten Schnoddrigkeit oder Lässigkeit zur Disposition gestellt werden. Und es gelingt dem Autor in seinen besten Gedichten, diesen Widerstreit als spannungsreichen poetischen Balanceakt zu organisieren.
Als religiöse Quellgründe nutzt Hans Thill ja nicht nur die heiligen Schriften des Christentums und seiner Häretiker, sondern in gleichem Maße die des Islam. In den Büchern, die er seit 1985 übersetzt, finden sich eben nicht nur die Schriften der französischen Avantgardisten Guillaume Apollinaire, Philippe Soupault, Yvan Goll oder Raymond Queneau, sondern auch die Bücher von Grenzgängern zwischen Orient und Okzident, Autoren wie Assja Djebar und Abdelwahab Meddeb. Bei Kuhlmann sind es punktuelle ästhetische Reize, vokabuläre Signale und der Habitus des Häretikers, die für Hans Thill Attraktionskraft besitzen. In ähnlicher Weise wie bei dem barocken Extremisten findet man auch bei den arabischen Poeten sprachmystische Impulse, eine Besessenheit an Formen der Litanei, der endlosen Reihung und manischen Vokabelauftürmung.
Quirinus Kuhlmann, der Verkünder der "Kühlmonarchie", ist als Ketzer gestorben, 1689 landete er in Moskau auf dem Scheiterhaufen. Und auch in diesem biographischen Moment der Revolte, des Ketzertums durch Sprachbesessenheit mögen einige eine Seelenverwandtschaft zwischen Kuhlmann und Thill erkennen.
Der wohlgefällige Hinweis auf die Ketzerei hat aber seine Tücken. Seit 1985, seit Hans Thill seinen Erstling "Gelächter Sirenen" veröffentlicht hat, macht das Wort vom Ketzer die Runde, der die Expressionisten und Surrealisten beerben wolle. Und tatsächlich findet man in diesem ersten Gedichtbuch von Hans Thill einen schönen Text, der die Leidenschaft und Vergeblichkeit des Ketzertums beschwört. Das Gedicht trägt den Titel "Deep throat" und beginnt mit folgenden Zeilen:
Singen ist dem Ketzer keine Hoffnung
doch aus vollem Hals.
Obwohl das lyrische Subjekt des Gedichtes die Vergeblichkeit seines Tuns zu ahnen scheint, wird der Gesang des Ketzers trotzig legitimiert. Dieser Ketzer macht im folgenden eine ganz unglückliche Figur, es wird ihm siedendes Öl, Jauche und Coca Cola eingeflößt. Aber am Ende steht wieder das trotzige Dennoch:
Doch der Ketzer wird singen
aus vollem Hals.
Der Autor schaut heute mit sehr gemischten Gefühlen auf seinen Erstling zurück, der ihm , wie er sagt , zum Hemmnis geworden war auf dem Weg zu Erweiterungen der eigenen lyrischen Perspektive. Zu deutlich war dieser Band den Gesten der Expressionisten und Surrealisten verpflichtet, zu sehr festgelegt erschien Hans Thill sich selbst in diesen Gedichten. Auch einige Kollegen und Freunde haben immer wieder eilfertig die Konturen des rebellischen Surrealisten nachgezeichnet. Sei es, dass sie auf die Fotografie verwiesen, die noch heute in den Verlagsräumen des Wunderhorn Verlags an der Wand lehnt und die den Autor mit sehr langen Haaren, randloser Brille und Anarchisten-Bart zeigen. Sei es, dass diese Freunde zu sehr den Schilderungen eines Romans aus dem Jahr 1989 folgten, in dem Hans Thill als "blonder Jüngling mit einem Anarchisten-Fähnchen" beschrieben wird. Nun, dieses Klischeebild eines Anarchisten und das Werk des aktuellen Peter-Huchel-Preisträgers liegen doch ziemlich weit auseinander. Der Autor selbst hat schon 1987 in seinem Glossar zu der Lyrik-Anthologie "Punktzeit" diese naive Ikonisierung zum Anarchisten milde belächelt: "In seiner Jugend", heisst es da, "wollte der Junge Lyriker Rockstar werden, Rechtsanwalt oder Terrorist."
Aber der junge Lyriker hat es sich einfach anders überlegt. Sein Misstrauen gegen politischen und ästhetischen Subjektivismus ist beständig gewachsen. Vom Übersetzer Thill hat der Lyriker Thill seit 1985 viel gelernt. Zum Beispiel das Horchen auf die Klangwerte der Wörter, das Gewahren der nie aufzuhebenden Differenz beim Transfer phonetischer und semantischer Elemente vom dichterischen Original in die Zielsprache. Und er hat gelernt, auch den Poetiken der von ihm verehrten Surrealisten nur bis zu einem bestimmten Grenzpunkt zu folgen, denn er hat die Begrenzungen eines Konzepts erkannt, das die "écriture automatique" (das automatische Schreiben) absolut setzt und damit einer Ästhetik der Willkür frönt.
Als verschärftes Misstrauensvotum gegen das Subjekt darf es auch verstanden werden, wenn Hans Thill in seinem zweiten, 1995 veröffentlichten Gedichtbuch "Zivile Ziele", vollständig auf das anmaßende Wort "Ich" verzichtet hat. Stattdessen, so scheint es, fahndet der Autor der "Zivilen Ziele" in detektivischem Hedonismus nach verwandten Klang- und Sinn-Feldern der Sprache, als gehe es darum, aus lautlichen Ähnlichkeiten von Wörtern, aus zufälligen Gleichklängen und aus Hör- und Lese-Fehlern komische Effekte zu gewinnen. "Zweierlei Empfindungen hatten sich/ herumgesprochen", heisst es in einem Gedicht, "solche mit Flachdach / solche mit französischer Bedeutung. / Wenn man ein gewisses Doppelwort aussprach / war der Schmerz schon da."
Es ist eine Poesie, die auf die Eigendynamik der Wörter lauert, auf überraschende Zusammenhänge und starke Kontraste, auf innerlinguistische Artistik. Er gehöre eben zu den "lautlichen Leuten", sagt Hans Thill, wenn man ihn auf solche linguistischen Aspekte seiner Gedichte aufmerksam macht.
Bizarre und paradoxe Klangverbindungen fügen sich auch in den "Kühlen Religionen" zu produktiver Nachbarschaft. An mindestens einer Stelle geht es sogar explizit um die Erkundung einer Lautverschiebung und um spezielle Funde "aus dem Akustischen". Selbstverständlich bleiben die Wörter auch innerhalb dieser poetischen Lautverschiebung nicht an ihrem angestammten Platz, sondern geraten durch eine leichte Drehung ins Groteske. Es ist ein sehr verschlungener assonantischer Weg, den man hier gehen muss. Das Gedicht beginnt so:
APPEL oder Affe? Das fromme Ohr hangelt sich durch die
Kronen das Auge ist längst bei den Ameisen
dem glänzenden Gekrakel in allen Etagen
Kurz darauf wird die Frage nach dem Verschlusslaut "p" neu gestellt – mit folgender Zeile:
Sagt man preisen will ich
die Preußen?
Assonanz- und Alliterations-Spiele dieser Art Lautverschiebungen könnten zu dem Fehlschluss verleiten, dass uns Hans Thill eine Poetik der innerlinguistischen Verblüffungen nahe bringen will. Es gehört indes zu den großen Stärken seiner "Kühlen Religionen", dass jedes Kapitel, jeder Zyklus dieses Bandes immer neue Schreibansätze und Stilmasken ausprobiert. Eins der schönsten Gedichte seines Buches findet großartige Bilder für die Spaltungen und Zerrissenheiten jenes Dichters, der die "Hälfte des Lebens" bedichtete, bevor ihm selbst die Teilung und Partialisierung des Selbst widerfuhr.
Hälfte des Lebens
Er ging jetzt klirrend wie auf
Tassen kleidete sich bunt nach Art
der Steppentiere die in seinem Innern
reißaus nahmen
Seine Haut war trockener geworden
knarzte im Schritt. Essend füllte
er seine sandigen Eingeweide
während die Gürtellinie langsam
Richtung Kehlkopf stieg
ging er auseinander in zwei
gleichschwere Teile die sich in der
Mitte eines Längsschnitts trafen
Der eine knatternd und vollgetankt
der andere bereits ausgeräumt
wie ein Maul das im Schlaf
die eigenen Zähne frisst
Neben dem Jahrhundertdichter Hölderlin taucht in den "Kühlen Religionen" noch eine weitere unorthodoxe Gestalt auf, die sich von der instrumentellen Vernunft nie hat einfangen lassen. Sie erscheint gleich in vier, fünf Gedichttiteln des Buches und hört auf den schönen Namen "Hans Harfe". Eine lautliche Spur über das Französische führt hier zu einem Großen der Moderne: zu dem Elsässer Hans Arp, der den Funktionalismen des Industriezeitalters einen assoziativen und improvisierenden Stil entgegensetzte. Von der Verwandlungs- und Bildfindungskunst des "Hans Harfe" alias Jean Arp hat sich Hans Thill beflügeln lassen. Er hat das artistische Spiel mit den Erscheinungen und die Herstellung von "Verblüffungszusammenhängen" mit seinen "Kühlen Religionen" wieder belebt. "Ich wanderte durch viele Dinge", heißt es bei Hans Arp, "Geschöpfe, Welten, und die Welt der Erscheinung begann zu gleiten, zu ziehen und sich zu verwandeln wie in den Märchen....Ich schlang und flocht leicht und improvisierend Wörter und Sätze um die aus der Zeitung gewählten Wörter und Sätze. Das Leben ist ein rätselhafter Hauch, und die Folge daraus kann nicht mehr als ein rätselhafter Hauch sein."
Auch gegenüber solchen Statements sollte man nicht allzu leichtgläubig sein. Denn das leichte "Flechten" und "Improvisieren" einer Wörter-Textur, wie es hier Hans Arp ausmalt, gehört ja zu den schwersten Kunstübungen. Und mit solchen schweren Kunstübungen, die auf listige Weise Leichtigkeit vortäuschen, haben wir es auch bei den "Kühlen Religionen" zu tun. Da ist also ein Dichter mit überaus überraschenden Bildfindungen und Verwandlungsstrategien, der immer wieder sich und uns zuruft: Bitte "schön unregelmäßig schreiben"! Von wie vielen Ambivalenzen und Widersprüchen dieser Dichter belagert wird, erhellt ein frühes Gedicht von Hans Thill, das die Aufgaben eines Subjekts an viele unterschiedliche Körperglieder delegiert. Am Ende ist es dann eine profane Kopfbedeckung, die den Platz des Ich einnimmt. Dass Ich ein anderer ist – nur wenige haben es so ironisch elegant und so beiläufig gesagt wie Hans Thill in seinem Erstling:
Die Mütze
Auf meinem Bauch trocknet die Wäsche eines italienischen Hotels,
zwei Finger nähen Handpuppen in Hongkong, die Nase
arbeitet als Briefbeschwerer bei den Vereinten Nationen.
Meine Ohren habe ich an eine Kellerei vermietet,
selten dringt ein Schrei herauf, zwei Augen sind auf Spätschicht,
mein Arsch spielt den Mörder in der Vierten
Internationale.
Ein Ellbogen ist Mitglied zahlreicher Bürgerinitiativen.
die Wirbelsäule wohnt im Naturkundemuseum. Auf dem Kopf
sitzt eine Mütze, die heißt Thill.
Nun, man darf zwanzig Jahre nach Niederschrift dieses Gedichts hinzufügen: Der poetische Gebrauchswert dieser Mütze ist auch heute noch enorm.
Hans Thill
Kühle Religionen. Gedichte
Wunderhorn Verlag, 104 S., EUR 17,90
Wer im Titelgedicht dieses Buches nach dem Geheimnis dieser "kühlen Religionen" forschen will, der wird zunächst auf topographische Gegebenheiten verwiesen, auf "Berge", auf "eine Unebenheit zwischen Wasserläufen" und schließlich auf "einsamere Gegenden". Der "heilige Berg", der dann in der Schlussstrophe besungen wird, erweist sich als ziemlich ungemütlicher, rauer Ort, dessen Fremdheit sich nicht dechiffrieren lässt:
heiliger Berg klotziger zugiger
Brautkörper Gräber weithin zu sehen
und Türme alle gleichnamig dazwischen
unverständliche Dialekte zu lesen.
Da ist also zunächst etwas "Unverständliches" im "Heiligen" verborgen. Man muss, um weiter zu sehen, einige Schritte zurück gehen, nämlich bis ins 17. Jahrhundert, um eine Gestalt zu entdecken, die uns mit der einschüchternden Wirkungskraft der "kühlen Religionen" vertraut macht. Dort finden wir im Jahr 1674 zunächst in Breslau, dann in der holländischen Universitätsstadt Leiden einen Mann von ungeheurem Geltungsbedürfnis, dem soeben eine göttliche Offenbarung widerfahren ist. Soeben noch hat sich dieser gerade mal 23jährige Mann, ein unerhört fanatischer Bücherleser, mit dem Plan befasst, in einer Enzyklopädie von neunzehn Bänden alles erreichbare Wissen über die Welt zusammenzufassen. Nun hat er die Schriften des Mystikers Jakob Böhme verschlungen, und sofort glaubt er, mit der ingeniösen Legitimation ausgestattet zu sein, als ein von Gott Erwählter im Alleingang den Kampf gegen den Antichrist zu führen.
Quirinus Kuhlmann heisst dieser bizarre Mann – und er verwandelt sich in diesem Jahr 1674 in einen der eigensinnigsten Religionsstifter der Neuzeit. In unheimlichem Sendungsbewusstsein verfasst er in den folgenden Jahren ein poetisch-theologisches Werk, das eine neue Heilsgeschichte ins Leben ruft: den sogenannten "Kühlpsalter". Schon der hochfahrende Anfang dieses "Kühlpsalters" verrät den sprachmystischen Absolutismus, mit dem Quirinus Kuhlmann seinen Zeitgenossen die frohe Botschaft nahe bringen wollte. "Der Kühlpsalter", heisst es da, "ist di Erfüllung aller Kühlpropheten, Kühlweisen, Kühlschrifftgelaehrten..."
Anschließend folgt eine Erläuterung zur Struktur des "Kühlpsalters": "Di ersten 7 Bücher bringen wesentlich fort di 7 Planeten und 7 Lebensgeister innerlich und euserlich; nicht nur allein di 7 Proben. Ides Buch bestehet aus Funffzehn Kühlpsalmen, deren erste 7 di eusere gestalt, und letzte 7 di innere gestalt; der mittelste aber das Centrum zwischen beiden darstellt."
Nach diesen Vorstudien über die zahlenmystische Begeisterung von Quirinus Kuhlmanns "Kühlpsalter" wird die Feststellung kaum überraschen, dass auch Hans Thills Gedichtbuch "Kühle Religionen" aus insgesamt 7 Zyklen bzw. 7 Projekten besteht. Statt ausgedehntem Gotteslob in planetarischer Dimension präsentiert Hans Thill in seiner eigenen Siebener-Ordnung der "Kühlen Religionen" ganz unterschiedliche Sprach- und Motivfelder, auf denen sich das Erhabene und das Banale, das Heilige und das Profane zu ungewöhnlichen Legierungen verbinden. Das beginnt mit surrealistisch aufblitzenden Momentaufnahmen aus der eigenen Kindheit (dem Zyklus "In der Eile"); das setzt sich fort mit einem Ausflug auf orientalische Schauplätze, um nach Begegnungen mit dem "Pariser Luftleben" der Erz-Surrealisten Philippe und Re Soupault und nach schönen Exkursen über Substanzen ("Stein", "Luft" oder "Baumwolle") wieder zu den Bildgründen der Religion zurückzukehren, etwa im Zyklus "Lotterbibel".
Von der großen theologische Ordnung, mit der ein Kuhlmann die globale Bekehrung der Ungläubigen erzwingen wollte, ist in den "Kühlen Religionen" nichts mehr übrig geblieben. Wenn ein Quirinus Kuhlmann noch jubilieren kann: "O Jesu Christ, du wahres A und Zett"! / Der Erst und Letzt, an den ich angekett!" – da folgt Hans Thill den eigensinnigen Assonanzen und Assoziationen im "alphabetischen Lärm", wie er das gleichzeitige Sich-Überkreuzen unterschiedlichster Sprachen nennt. Er vernimmt zwar noch das göttliche "A und Zett", aber er lauscht nicht mehr den Wahrheitsansprüchen dieser göttlichen Rede, sondern ihren Klangreizen, ihren semantischen Oszillationen und ihrer kühnen Bildlichkeit. Diese Gedichte leben vom fortdauernden inneren Widerstreit zwischen dem hohen Ton und seiner ironischen Entzauberung. Sie spielen mit den Geltungsansprüchen der Metapher, die von einer markanten Schnoddrigkeit oder Lässigkeit zur Disposition gestellt werden. Und es gelingt dem Autor in seinen besten Gedichten, diesen Widerstreit als spannungsreichen poetischen Balanceakt zu organisieren.
Als religiöse Quellgründe nutzt Hans Thill ja nicht nur die heiligen Schriften des Christentums und seiner Häretiker, sondern in gleichem Maße die des Islam. In den Büchern, die er seit 1985 übersetzt, finden sich eben nicht nur die Schriften der französischen Avantgardisten Guillaume Apollinaire, Philippe Soupault, Yvan Goll oder Raymond Queneau, sondern auch die Bücher von Grenzgängern zwischen Orient und Okzident, Autoren wie Assja Djebar und Abdelwahab Meddeb. Bei Kuhlmann sind es punktuelle ästhetische Reize, vokabuläre Signale und der Habitus des Häretikers, die für Hans Thill Attraktionskraft besitzen. In ähnlicher Weise wie bei dem barocken Extremisten findet man auch bei den arabischen Poeten sprachmystische Impulse, eine Besessenheit an Formen der Litanei, der endlosen Reihung und manischen Vokabelauftürmung.
Quirinus Kuhlmann, der Verkünder der "Kühlmonarchie", ist als Ketzer gestorben, 1689 landete er in Moskau auf dem Scheiterhaufen. Und auch in diesem biographischen Moment der Revolte, des Ketzertums durch Sprachbesessenheit mögen einige eine Seelenverwandtschaft zwischen Kuhlmann und Thill erkennen.
Der wohlgefällige Hinweis auf die Ketzerei hat aber seine Tücken. Seit 1985, seit Hans Thill seinen Erstling "Gelächter Sirenen" veröffentlicht hat, macht das Wort vom Ketzer die Runde, der die Expressionisten und Surrealisten beerben wolle. Und tatsächlich findet man in diesem ersten Gedichtbuch von Hans Thill einen schönen Text, der die Leidenschaft und Vergeblichkeit des Ketzertums beschwört. Das Gedicht trägt den Titel "Deep throat" und beginnt mit folgenden Zeilen:
Singen ist dem Ketzer keine Hoffnung
doch aus vollem Hals.
Obwohl das lyrische Subjekt des Gedichtes die Vergeblichkeit seines Tuns zu ahnen scheint, wird der Gesang des Ketzers trotzig legitimiert. Dieser Ketzer macht im folgenden eine ganz unglückliche Figur, es wird ihm siedendes Öl, Jauche und Coca Cola eingeflößt. Aber am Ende steht wieder das trotzige Dennoch:
Doch der Ketzer wird singen
aus vollem Hals.
Der Autor schaut heute mit sehr gemischten Gefühlen auf seinen Erstling zurück, der ihm , wie er sagt , zum Hemmnis geworden war auf dem Weg zu Erweiterungen der eigenen lyrischen Perspektive. Zu deutlich war dieser Band den Gesten der Expressionisten und Surrealisten verpflichtet, zu sehr festgelegt erschien Hans Thill sich selbst in diesen Gedichten. Auch einige Kollegen und Freunde haben immer wieder eilfertig die Konturen des rebellischen Surrealisten nachgezeichnet. Sei es, dass sie auf die Fotografie verwiesen, die noch heute in den Verlagsräumen des Wunderhorn Verlags an der Wand lehnt und die den Autor mit sehr langen Haaren, randloser Brille und Anarchisten-Bart zeigen. Sei es, dass diese Freunde zu sehr den Schilderungen eines Romans aus dem Jahr 1989 folgten, in dem Hans Thill als "blonder Jüngling mit einem Anarchisten-Fähnchen" beschrieben wird. Nun, dieses Klischeebild eines Anarchisten und das Werk des aktuellen Peter-Huchel-Preisträgers liegen doch ziemlich weit auseinander. Der Autor selbst hat schon 1987 in seinem Glossar zu der Lyrik-Anthologie "Punktzeit" diese naive Ikonisierung zum Anarchisten milde belächelt: "In seiner Jugend", heisst es da, "wollte der Junge Lyriker Rockstar werden, Rechtsanwalt oder Terrorist."
Aber der junge Lyriker hat es sich einfach anders überlegt. Sein Misstrauen gegen politischen und ästhetischen Subjektivismus ist beständig gewachsen. Vom Übersetzer Thill hat der Lyriker Thill seit 1985 viel gelernt. Zum Beispiel das Horchen auf die Klangwerte der Wörter, das Gewahren der nie aufzuhebenden Differenz beim Transfer phonetischer und semantischer Elemente vom dichterischen Original in die Zielsprache. Und er hat gelernt, auch den Poetiken der von ihm verehrten Surrealisten nur bis zu einem bestimmten Grenzpunkt zu folgen, denn er hat die Begrenzungen eines Konzepts erkannt, das die "écriture automatique" (das automatische Schreiben) absolut setzt und damit einer Ästhetik der Willkür frönt.
Als verschärftes Misstrauensvotum gegen das Subjekt darf es auch verstanden werden, wenn Hans Thill in seinem zweiten, 1995 veröffentlichten Gedichtbuch "Zivile Ziele", vollständig auf das anmaßende Wort "Ich" verzichtet hat. Stattdessen, so scheint es, fahndet der Autor der "Zivilen Ziele" in detektivischem Hedonismus nach verwandten Klang- und Sinn-Feldern der Sprache, als gehe es darum, aus lautlichen Ähnlichkeiten von Wörtern, aus zufälligen Gleichklängen und aus Hör- und Lese-Fehlern komische Effekte zu gewinnen. "Zweierlei Empfindungen hatten sich/ herumgesprochen", heisst es in einem Gedicht, "solche mit Flachdach / solche mit französischer Bedeutung. / Wenn man ein gewisses Doppelwort aussprach / war der Schmerz schon da."
Es ist eine Poesie, die auf die Eigendynamik der Wörter lauert, auf überraschende Zusammenhänge und starke Kontraste, auf innerlinguistische Artistik. Er gehöre eben zu den "lautlichen Leuten", sagt Hans Thill, wenn man ihn auf solche linguistischen Aspekte seiner Gedichte aufmerksam macht.
Bizarre und paradoxe Klangverbindungen fügen sich auch in den "Kühlen Religionen" zu produktiver Nachbarschaft. An mindestens einer Stelle geht es sogar explizit um die Erkundung einer Lautverschiebung und um spezielle Funde "aus dem Akustischen". Selbstverständlich bleiben die Wörter auch innerhalb dieser poetischen Lautverschiebung nicht an ihrem angestammten Platz, sondern geraten durch eine leichte Drehung ins Groteske. Es ist ein sehr verschlungener assonantischer Weg, den man hier gehen muss. Das Gedicht beginnt so:
APPEL oder Affe? Das fromme Ohr hangelt sich durch die
Kronen das Auge ist längst bei den Ameisen
dem glänzenden Gekrakel in allen Etagen
Kurz darauf wird die Frage nach dem Verschlusslaut "p" neu gestellt – mit folgender Zeile:
Sagt man preisen will ich
die Preußen?
Assonanz- und Alliterations-Spiele dieser Art Lautverschiebungen könnten zu dem Fehlschluss verleiten, dass uns Hans Thill eine Poetik der innerlinguistischen Verblüffungen nahe bringen will. Es gehört indes zu den großen Stärken seiner "Kühlen Religionen", dass jedes Kapitel, jeder Zyklus dieses Bandes immer neue Schreibansätze und Stilmasken ausprobiert. Eins der schönsten Gedichte seines Buches findet großartige Bilder für die Spaltungen und Zerrissenheiten jenes Dichters, der die "Hälfte des Lebens" bedichtete, bevor ihm selbst die Teilung und Partialisierung des Selbst widerfuhr.
Hälfte des Lebens
Er ging jetzt klirrend wie auf
Tassen kleidete sich bunt nach Art
der Steppentiere die in seinem Innern
reißaus nahmen
Seine Haut war trockener geworden
knarzte im Schritt. Essend füllte
er seine sandigen Eingeweide
während die Gürtellinie langsam
Richtung Kehlkopf stieg
ging er auseinander in zwei
gleichschwere Teile die sich in der
Mitte eines Längsschnitts trafen
Der eine knatternd und vollgetankt
der andere bereits ausgeräumt
wie ein Maul das im Schlaf
die eigenen Zähne frisst
Neben dem Jahrhundertdichter Hölderlin taucht in den "Kühlen Religionen" noch eine weitere unorthodoxe Gestalt auf, die sich von der instrumentellen Vernunft nie hat einfangen lassen. Sie erscheint gleich in vier, fünf Gedichttiteln des Buches und hört auf den schönen Namen "Hans Harfe". Eine lautliche Spur über das Französische führt hier zu einem Großen der Moderne: zu dem Elsässer Hans Arp, der den Funktionalismen des Industriezeitalters einen assoziativen und improvisierenden Stil entgegensetzte. Von der Verwandlungs- und Bildfindungskunst des "Hans Harfe" alias Jean Arp hat sich Hans Thill beflügeln lassen. Er hat das artistische Spiel mit den Erscheinungen und die Herstellung von "Verblüffungszusammenhängen" mit seinen "Kühlen Religionen" wieder belebt. "Ich wanderte durch viele Dinge", heißt es bei Hans Arp, "Geschöpfe, Welten, und die Welt der Erscheinung begann zu gleiten, zu ziehen und sich zu verwandeln wie in den Märchen....Ich schlang und flocht leicht und improvisierend Wörter und Sätze um die aus der Zeitung gewählten Wörter und Sätze. Das Leben ist ein rätselhafter Hauch, und die Folge daraus kann nicht mehr als ein rätselhafter Hauch sein."
Auch gegenüber solchen Statements sollte man nicht allzu leichtgläubig sein. Denn das leichte "Flechten" und "Improvisieren" einer Wörter-Textur, wie es hier Hans Arp ausmalt, gehört ja zu den schwersten Kunstübungen. Und mit solchen schweren Kunstübungen, die auf listige Weise Leichtigkeit vortäuschen, haben wir es auch bei den "Kühlen Religionen" zu tun. Da ist also ein Dichter mit überaus überraschenden Bildfindungen und Verwandlungsstrategien, der immer wieder sich und uns zuruft: Bitte "schön unregelmäßig schreiben"! Von wie vielen Ambivalenzen und Widersprüchen dieser Dichter belagert wird, erhellt ein frühes Gedicht von Hans Thill, das die Aufgaben eines Subjekts an viele unterschiedliche Körperglieder delegiert. Am Ende ist es dann eine profane Kopfbedeckung, die den Platz des Ich einnimmt. Dass Ich ein anderer ist – nur wenige haben es so ironisch elegant und so beiläufig gesagt wie Hans Thill in seinem Erstling:
Die Mütze
Auf meinem Bauch trocknet die Wäsche eines italienischen Hotels,
zwei Finger nähen Handpuppen in Hongkong, die Nase
arbeitet als Briefbeschwerer bei den Vereinten Nationen.
Meine Ohren habe ich an eine Kellerei vermietet,
selten dringt ein Schrei herauf, zwei Augen sind auf Spätschicht,
mein Arsch spielt den Mörder in der Vierten
Internationale.
Ein Ellbogen ist Mitglied zahlreicher Bürgerinitiativen.
die Wirbelsäule wohnt im Naturkundemuseum. Auf dem Kopf
sitzt eine Mütze, die heißt Thill.
Nun, man darf zwanzig Jahre nach Niederschrift dieses Gedichts hinzufügen: Der poetische Gebrauchswert dieser Mütze ist auch heute noch enorm.
Hans Thill
Kühle Religionen. Gedichte
Wunderhorn Verlag, 104 S., EUR 17,90