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Frühe Hilfe soll Kinder schützen

Auf Fälle von Kindstötung und Vernachlässigung wie die von Kevin oder Lea-Sophie hat die Bundesregierung mit dem Aktionsprogramm "Frühe Hilfen" reagiert. Seit 2007 finanziert sie mit insgesamt elf Millionen Euro das "Nationale Zentrum Frühe Hilfen". Zumindest bis zum Jahr 2010 koordiniert dieses bundesweit zehn Modellprojekte. Sie sollen erforschen, wie hoch belastete Familien besser erreicht und wie ihnen frühzeitig geholfen werden kann. Auf einer Tagung in Berlin wurden Ideen und Konzepte ausgetauscht.

Von Isabell Fannrich-Lautenschläger |
    "So eine typische Konstellation ist dann eben die 17-Jährige mit einem Baby, die gesagt hat, ich möchte das Kind bekommen, die keinen Schulabschluss hat, jetzt endlich eine Aufgabe hat, das auch sehr ernst nimmt, aber absolut verunsichert ist, was sie da alles erwartet. Wo also das junge Mädchen dann in der Nacht bei der Hebamme anruft: Mein Kind schreit und hört nicht auf. Was kann ich tun?"

    Christiane Luderer ist Gesundheitswissenschaftlerin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Sie erforscht die Rolle von Familienhebammen in Familien, die Probleme etwa mit Arbeitslosigkeit, Sucht, Gewalt oder psychischen Erkrankungen haben. Im Modellprojekt "FrühStart" begleitet die Hebamme eine Frau und ihre Kinder länger als sonst üblich - im Idealfall von der Schwangerschaft bis zum ersten Lebensjahr des Kindes. Anders als klassische Hebammen berät die zusätzlich qualifizierte Familienhebamme nicht nur bei der Kinderpflege und -ernährung.

    Darüber hinaus vermittelt sie Frauen und Familien weitere Hilfsangebote, schafft Kontakte zu Beratungsstellen oder begleitet sie zum Jugendamt. Die emotionale Stärkung gewinnt hier einen ähnlich hohen Stellenwert wie die Gesundheit von Mutter und Kind. Diese Hilfe soll vorbeugen, damit Eltern ihre Kinder nicht vernachlässigen, schlagen oder gar töten. Christiane Luderer:

    "Ja, und wenn die Hebamme nicht da wäre, würde sie dem Kind vielleicht ein Zäpfchen geben, weil es beim letzten Mal auch geholfen hat, ohne zu wissen, ob das das Richtige ist. Und so ist einfach auch ein Sicherheitsfaktor eingeschaltet, wo nicht vorschnell, um das Kind zu beruhigen, etwas Falsches getan wird, und wo auch das Kind letzten Endes keinen Schaden nimmt, beispielsweise weil eine überforderte Mutter anfängt, es zu schütteln."

    Mehr als 30 Familienhebammen haben bislang für "FrühStart" rund 330 Familien in ganz Sachsen-Anhalt betreut. Die meisten Mütter beteiligten sich mittels Fragebogen und Selbstauskunft an der wissenschaftlichen Seite des Projekts. Außerdem gingen die Forscher in die sozialen Brennpunkte - und besuchten wie Christiane Luderer - einen Teil der Frauen zu Hause zum Interview.

    "Diese Interviews sind zum großen Teil schon analysiert und zeigen schon, dass der Punkt Vertrauen ein ganz, ganz wichtiger Punkt ist zur Familienhebamme. Das Vertrauen zur Familienhebamme sozusagen als Türöffner. Wenn eine Hebamme vor der Tür steht, sagen die Frauen: Die lasse ich halt eher rein, als wenn einer vom Jugendamt vor der Tür steht. Und das ist eine wichtige Information, wie man vielleicht an diese belasteten Familien auch rankommt."

    Die meisten von "FrühStart" betreuten Frauen empfangen die Hebamme gerne und zeigen sich offen für ihre Ratschläge - und diese hat die Chance, während der Betreuungszeit großen Einfluss zu nehmen. Manche Mütter sind allerdings für dieses Angebot weniger erreichbar. Sie begegnen der Familienhebamme mit Misstrauen, weil sie sich kontrolliert fühlen - oder steigen sogar aus dem Projekt aus.

    Andere Methoden erproben derzeit neun weitere Modellvorhaben. Das "Nationale Zentrum Frühe Hilfen" (NZFH) mit Sitz in Köln koordiniert und unterstützt diese in der ganzen Republik verstreuten Projekte. Die Wissenschaftler treffen sich regelmäßig. Alexandra Sann arbeitet als wissenschaftliche Familienexpertin beim NZFH:

    "Das Besondere ist eigentlich, dass wir dort mit Projekten schon in der Projektphase zusammen arbeiten. Das ist etwas, was es so oft nicht gibt in der Forschungslandschaft, dass wir schon in der Zeit, wo Projekte beginnen, gemeinsam auch Fragestellungen entwickeln, Detail-Fragestellungen, uns auch austauschen über Erhebungsstrategien, Forschungsmethoden. Die Projekte haben sich das auch gegenseitig vorgestellt, haben dann zum Teil in dieser Phase schon von anderen was übernehmen können, wo sie sagen: Das ist ja eine tolle Methode. Das könnten wir doch auch einsetzen."

    Frühe Hilfen: Das sind neben Familienhebammen etwa kommunale Babybegrüßungsdienste oder Elternschulen, die über Videoaufnahmen die Mütter und die Väter in ihrer Erziehungskompetenz stärken. Über die Zielrichtung früher Hilfen allerdings streiten sich die Fachleute. Alexandra Sann:

    "Wir ringen gerade sehr um den Begriff der frühen Hilfen. Wir hatten sehr intensive Diskussionen jetzt mit dem wissenschaftlichen Beirat und da wurde dann deutlich, dass es ein ganz breites Spektrum gibt, was man darunter verstehen kann. Also es gibt die Position, dass frühe Hilfen vor allen Dingen also frühe Prävention ist, Empowerment von Familien, Unterstützungssysteme aufbauen. Es gibt aber auch am anderen Ende des Spektrums ein Verständnis von frühen Hilfen, das sagt, das ist vor allen Dingen ein System im Kinderschutz, wo es darum geht, möglichst frühzeitig Risikolagen zu entdecken und frühzeitig zu intervenieren, um Kinder vor Schlimmerem zu bewahren."

    Hilfe ist dringend geboten angesichts der ersten Ergebnisse des Projekts "FrühStart": Danach ist je ein Drittel der belasteten Mütter unter 20 Jahre alt oder hat keinen Schulabschluss. Zwei Drittel der Frauen sind ledig, viele von ihnen erziehen allein. Mehr als 65 Prozent leben am Existenzminimum. Ein Viertel der Frauen hat Gewalt durch den Partner erfahren, ein weiteres Viertel in der Herkunftsfamilie. Nach Auskunft von Christiane Luderer fühlt sich fast die Hälfte der Frauen massiv überfordert oder hilflos. Bei 37 Prozent der Mütter kriselt die Partnerschaft, genauso viele scheitern daran, den Alltag zu strukturieren.

    Damit diese Frauen mit ihren Kindern nicht durch das Netz sondern auffallen, erproben "FrühStart" und weitere Modellprojekte eine bessere Kommunikation aller kommunalen Akteure. Denn die Uni Halle förderte zutage, dass es bislang meist schlecht steht um die Zusammenarbeit von Kinderärzten, Kliniken und Hebammen, Kindergärtnerinnen und Jugendamt, Beratungsstellen und Polizei. Droht aber die akute Gefährdung eines Kindes, reicht es nicht zu wissen, an wen man Frau und Kind weiter leitet, sagt Christiane Luderer:

    "Jeder hat so seine Sparte und dementsprechend doch holperig kann man auch die Vernetzung dann bezeichnen. Ein bisschen merken wir langsam, dass das Feedback ein riesengroßes Problem ist. Also da wird schon gesagt: Du kannst dahin gehen und dahin gehen und dahin gehen. Aber ob die Frau tatsächlich die Hilfe gesucht hat, das ist nicht klar. Ob die Experten den Telefonhörer in die Hand nehmen und fragen: Ist die bei Euch gewesen? Egal was der Datenschutz sagt. Ob die das machen, das hängt sehr von der Persönlichkeit ab. Nicht vom Beruf."

    Bis 2010 will das Nationale Zentrum Frühe Hilfen aus den Projektergebnissen eine Art Ratgeber früher Hilfen erstellen. Darin können sich Kommunen in ganz Deutschland informieren: Mit welchen Angeboten sie den Kinderschutz verbessern - oder wie sich die Akteure an einem Runden Tisch vernetzen können.

    "Es geht darum, ganz komplexe Dinge miteinander zu verknüpfen, eben Jugendhilfe, Gesundheitshilfe, Schwangerenberatungsstellen, Frühförderer und noch andere, Kindertagesstätten - das sind so viele. Und da etwas vor Ort zu etablieren, wo man einfach achtsam ist gegenüber Familien und für sich auch ein System aufbaut, in dem man voneinander Kenntnis hat, das erhöht die Chancen, dass Familien dann tatsächlich rechtzeitig an Hilfen kommen. Und das ist ein Prozess, den jede Kommune selber gehen muss vor Ort."