Sie sitzen einander gegenüber und strahlen sich an. Tom und Irene. Im East End geboren und aufgewachsen. Hier im Manze haben sie sich kennen gelernt, ein Laden in der Walthamstow High Street. Vor 58 Jahren.
"Sie kam rein und bestellt sich eine Tasse Tee", erzählt Tom. "Es war Liebe auf den ersten Blick". Irene nickt. Tom war und ist der einzige Mann in ihrem Leben.
Irene, 92, klein, zierlich, blaue Augen, fliederfarbenes Twinset. Das Lokal Manze sieht noch genauso so aus wie in ihrer Kindheit. Gesprenkelter Steinboden, mit Sägmehl bestreut, weiße Wandfliesen bis zur Decke, am oberen Rand eine Jugendstilgirlande in rostbraun und grün. Ein hoher Marmortresen mit Zinkkübeln. Darin eine klumpige Masse. Kartoffelbrei. Und "pews", schmale enge Holzbänke, die aus einer Kirche oder einem alten Eisenbahnabteil stammen könnten.
Einmal im Monat werden Irene und Tom von Jaqueline, ihrer jüngsten Tochter ausgeführt. Dann bestellt sich die ganze Familie "pie, mash and liquor" - wie in alten Zeiten.
Kartoffelbrei, auf englisch "mash", kübelweise aus der Küche getragen und mit einer Holzkelle auf die Teller geklatscht. Dazu "pie", gedämpftes Hackfleisch mit fetten Knorpeln, im Teigmantel. Und "liquor", nichts Alkoholisches, wie’s der Name vermuten ließe, sondern eine dicke grüne Mehlsauce mit Petersilie. Das Ganze mit Essig abgewürzt.
Früher standen auch noch heiße Sülzaale auf der Tafel, als Kind hat Jaqueline zugeguckt, wie die lebenden Aale in Stücke gehackt wurden. Heute ist das Cockney Gericht im East End knapp geworden: die feinen Pinkel im WestEnd haben es zur Delikatesse erklärt.
Kaum zu fassen, aber Tom ist 86. Jede Menge Furchen im Gesicht, aber flinke Augen und eine noch flinkere Zunge. Sein Leben lang hat er sein eigenes Gemüse gezogen, im "allotment", seinem Schrebergärtchen. Dorthin pilgert er noch heute, fast jeden Tag. Ansonsten sitzt er daheim, vor dem Fernseher oder hört zusammen mit Irene Radio.
"Früher hat sich das ganze Leben auf der Straße abgespielt. Die Nachbarn hielten zusammen. Wenn sich mal jemand nicht blicken ließ, hieß es gleich, ja wo ist sie denn, die Ida, was ist mit ihr los. Heute ist das ganz anders. Die Leute verschwinden in ihren Häusern und reden nicht mehr miteinander."
Irene hatte zehn Geschwister. Ihr Vater schleppte Kohlen in den Docks und starb früh an TB. Der ganze Familienclan wohnte in der Tenby Street: Onkel, Tanten, Großeltern, Nichten. Oft im selben Haus, übereinander, nebeneinander, höchstens ein paar Ecken weiter. Die Mädchen spielten Himmel und Hölle, die Buben kletterten auf Straßenlaternen. Die Frauen arbeiteten bei Everready, einer Batterien-Fabrik, ihre Männer in den Warenhäusern, Docks, oder auf dem Markt. Jeden Tag gab's Kartoffeln, Brot, Margarine, und süßen Tee. Außer am Sonntag, da versammelte sich die ganze Verwandtschaft zum Sunday Roast: bis zu 30 Leute, die passten gar nicht alle an den Tisch. Das Essen wurde in zwei Schüben serviert. Fetter Schweinebauch, Kartoffeln, gekochter Kohl. Und zu besonderen Anlässen. Brotpudding mit Rosinen.
Zur Unterhaltung traf man sich im Pub. Die Männer tranken Ale, die Frauen Limonade. Kinobesuche waren selten. Gesellschaftliches Zentrum: der Fußballklub. Hier wurden Bingo-Spiele organisiert, Liederabende, Gesellschaftstänze. Tom spielte Akkordeon, das Honorar reichte für zwei Portionen "pie and mash", natürlich bei Manze.
Den Urlaub verbrachte Irene am Meer in Southend. Oder beim Hopfenlesen in Kent. Jeden Tag kamen Pferdekarren, um Frauen und Kinder auf die Hopfenfelder zu fahren. Sie übernachteten in Hopfenhütten. Das waren die alljährlichen Cockney Ferien.
Mit dem Krieg ging eine ganze Ära zu Ende. Das East End war am schwersten betroffen, weite Teile gingen in Flammen auf. Die Regierung befahl den Londonern, ihre Kinder aufs Land zu schicken.
Die Bomben kamen runter, die Leute rannten in die Kirche und versteckten sich unter den Bänken. In Walthamstow war’s nicht ganz so schlimm, aber weiter unten in Hackney und Bow, da wurden ganze Straßenzüge vernichtet.
Was der Krieg nicht kaputt machte, wurde später abgerissen: Irenes Viertel war so heruntergekommen, dass man die Bewohner umsiedelte. Der soziale Zusammenhalt ging verloren.
Auch der Walthamstow Markt hat sich gewandelt. Ursprüngliche EastEnders sind in der Minderheit, die meisten Stände sind in asiatischer und afro-karibischer Hand. Die Kunden kommen von nah und fern.
Materiell geht's den Leuten besser, meint Tom. Die Häuser sind viel schöner. Das Viertel ist nicht mehr so bitterarm.
Die ethnische Mischung hat das Viertel bereichert, so Jaqueline. Sie ist - wie alle ihre Geschwister - aus Walthamstow weggezogen. Ein eigenes Auto und ein Eigenheim, das war ihr größter Traum. Wenn Jaqueline ihre Eltern im East End besucht, bringt sie ihren Kindern jedesmal ein Takeaway von Manze mit. Die essen lieber bei Macdonalds - aber sie finden Pie, Mash und Liquor so seltsam antiquiert, dass es fast schon wieder gut ist.
"Sie kam rein und bestellt sich eine Tasse Tee", erzählt Tom. "Es war Liebe auf den ersten Blick". Irene nickt. Tom war und ist der einzige Mann in ihrem Leben.
Irene, 92, klein, zierlich, blaue Augen, fliederfarbenes Twinset. Das Lokal Manze sieht noch genauso so aus wie in ihrer Kindheit. Gesprenkelter Steinboden, mit Sägmehl bestreut, weiße Wandfliesen bis zur Decke, am oberen Rand eine Jugendstilgirlande in rostbraun und grün. Ein hoher Marmortresen mit Zinkkübeln. Darin eine klumpige Masse. Kartoffelbrei. Und "pews", schmale enge Holzbänke, die aus einer Kirche oder einem alten Eisenbahnabteil stammen könnten.
Einmal im Monat werden Irene und Tom von Jaqueline, ihrer jüngsten Tochter ausgeführt. Dann bestellt sich die ganze Familie "pie, mash and liquor" - wie in alten Zeiten.
Kartoffelbrei, auf englisch "mash", kübelweise aus der Küche getragen und mit einer Holzkelle auf die Teller geklatscht. Dazu "pie", gedämpftes Hackfleisch mit fetten Knorpeln, im Teigmantel. Und "liquor", nichts Alkoholisches, wie’s der Name vermuten ließe, sondern eine dicke grüne Mehlsauce mit Petersilie. Das Ganze mit Essig abgewürzt.
Früher standen auch noch heiße Sülzaale auf der Tafel, als Kind hat Jaqueline zugeguckt, wie die lebenden Aale in Stücke gehackt wurden. Heute ist das Cockney Gericht im East End knapp geworden: die feinen Pinkel im WestEnd haben es zur Delikatesse erklärt.
Kaum zu fassen, aber Tom ist 86. Jede Menge Furchen im Gesicht, aber flinke Augen und eine noch flinkere Zunge. Sein Leben lang hat er sein eigenes Gemüse gezogen, im "allotment", seinem Schrebergärtchen. Dorthin pilgert er noch heute, fast jeden Tag. Ansonsten sitzt er daheim, vor dem Fernseher oder hört zusammen mit Irene Radio.
"Früher hat sich das ganze Leben auf der Straße abgespielt. Die Nachbarn hielten zusammen. Wenn sich mal jemand nicht blicken ließ, hieß es gleich, ja wo ist sie denn, die Ida, was ist mit ihr los. Heute ist das ganz anders. Die Leute verschwinden in ihren Häusern und reden nicht mehr miteinander."
Irene hatte zehn Geschwister. Ihr Vater schleppte Kohlen in den Docks und starb früh an TB. Der ganze Familienclan wohnte in der Tenby Street: Onkel, Tanten, Großeltern, Nichten. Oft im selben Haus, übereinander, nebeneinander, höchstens ein paar Ecken weiter. Die Mädchen spielten Himmel und Hölle, die Buben kletterten auf Straßenlaternen. Die Frauen arbeiteten bei Everready, einer Batterien-Fabrik, ihre Männer in den Warenhäusern, Docks, oder auf dem Markt. Jeden Tag gab's Kartoffeln, Brot, Margarine, und süßen Tee. Außer am Sonntag, da versammelte sich die ganze Verwandtschaft zum Sunday Roast: bis zu 30 Leute, die passten gar nicht alle an den Tisch. Das Essen wurde in zwei Schüben serviert. Fetter Schweinebauch, Kartoffeln, gekochter Kohl. Und zu besonderen Anlässen. Brotpudding mit Rosinen.
Zur Unterhaltung traf man sich im Pub. Die Männer tranken Ale, die Frauen Limonade. Kinobesuche waren selten. Gesellschaftliches Zentrum: der Fußballklub. Hier wurden Bingo-Spiele organisiert, Liederabende, Gesellschaftstänze. Tom spielte Akkordeon, das Honorar reichte für zwei Portionen "pie and mash", natürlich bei Manze.
Den Urlaub verbrachte Irene am Meer in Southend. Oder beim Hopfenlesen in Kent. Jeden Tag kamen Pferdekarren, um Frauen und Kinder auf die Hopfenfelder zu fahren. Sie übernachteten in Hopfenhütten. Das waren die alljährlichen Cockney Ferien.
Mit dem Krieg ging eine ganze Ära zu Ende. Das East End war am schwersten betroffen, weite Teile gingen in Flammen auf. Die Regierung befahl den Londonern, ihre Kinder aufs Land zu schicken.
Die Bomben kamen runter, die Leute rannten in die Kirche und versteckten sich unter den Bänken. In Walthamstow war’s nicht ganz so schlimm, aber weiter unten in Hackney und Bow, da wurden ganze Straßenzüge vernichtet.
Was der Krieg nicht kaputt machte, wurde später abgerissen: Irenes Viertel war so heruntergekommen, dass man die Bewohner umsiedelte. Der soziale Zusammenhalt ging verloren.
Auch der Walthamstow Markt hat sich gewandelt. Ursprüngliche EastEnders sind in der Minderheit, die meisten Stände sind in asiatischer und afro-karibischer Hand. Die Kunden kommen von nah und fern.
Materiell geht's den Leuten besser, meint Tom. Die Häuser sind viel schöner. Das Viertel ist nicht mehr so bitterarm.
Die ethnische Mischung hat das Viertel bereichert, so Jaqueline. Sie ist - wie alle ihre Geschwister - aus Walthamstow weggezogen. Ein eigenes Auto und ein Eigenheim, das war ihr größter Traum. Wenn Jaqueline ihre Eltern im East End besucht, bringt sie ihren Kindern jedesmal ein Takeaway von Manze mit. Die essen lieber bei Macdonalds - aber sie finden Pie, Mash und Liquor so seltsam antiquiert, dass es fast schon wieder gut ist.