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Früher Kneipen-Prolls, heute Mitte-Bohème

In Helmut Kuhns Roman "Gehwegschäden" sind Parallelen zu Döblins "Berlin Alexanderplatz" nicht zufällig. In den Kneipen, in denen sich einst Proletarier beim Bier trafen, sitzt heute die digitale Bohème. Ganz bewusst greift Kuhn das Döblinsche Erbe auf, um ein Zeit- und Sittenbild des heutigen Berlins zu entwerfen.

Von Ralph Gerstenberg | 24.05.2012
    Die Gegend rund um den Berliner Alexanderplatz ist nicht nur ein urbaner Mikrokosmos, sondern seit Alfred Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz" gleichsam ein Topos der Literaturgeschichte. Hier wurde erstmals der Versuch unternommen, für den modernen Großstadtdschungel, den pulsierenden Rhythmus und die Vielstimmigkeit urbaner Existenzen eine adäquate literarische Form zu finden. Insofern ist es schon kühn, wenn Helmut Kuhn mit seinem Roman "Gehwegschäden" ganz bewusst in Döblins Fußstapfen tritt. Die Anspielungen sind von Anfang an unübersehbar: Da rattert "die Elektrische" durch die Straßen, Kapitelüberschriften erläutern wie bei Döblin das Geschehen, selbst der Name von Kuhns Hauptfigur Thomas Frantz erinnert an Döblins Protagonisten Franz Bieberkopf.

    "Die Grundidee ist natürlich schon, zu sagen: Wer hat denn hier vor 80 Jahren rund um den Alexanderplatz gelebt. Und da muss man sagen: Das war damals das Proletariat. Also Franz Bieberkopf ist ja auch ein proletarischer Held. Und wer lebt heute hier? Wenn man ehrlich ist und genau ist, ist es das Prekariat. Ich wollte mich auf gar keinen Fall mit Döblin messen. Ich wollte nur versuchen, das, was er versucht hat, die Gesellschaft zu zeigen, so eine Art Sittenbild, einen Gesellschaftszustand darzustellen."

    Thomas Frantz, die Hauptfigur in Kuhns Roman, ist so eine prekäre Existenz. Der freiberufliche Journalist war einst Kriegsberichterstatter, schrieb gut bezahlte Reportagen und Artikel für Hochglanzmagazine. Mit Mitte vierzig fristet er nun ein Leben am Existenzminimum. Immer mehr gut ausgebildete Freelancer rücken nach. Indes schrumpfen die Honorare. Für eine rechercheaufwendige Reportage auf der renommierten Seite Drei einer Berliner Tageszeitung erhält Thomas Frantz gerade mal 350 Euro. Dennoch hat er keine Wahl, muss selbst schlecht bezahlte Arbeiten annehmen, sonst kappt der Energiekonzern den Strom, der Gerichtsvollzieher steht bereits auf der Matte. Angesichts dieses Dilemmas stellt Frantz sich die Frage, ob er denn überhaupt noch zu den Leistungsträgern dieser Gesellschaft zählt.

    "Leistungsträger! Das ist so ein FDP-Wort. Es ist einfach ein kalter Begriff, ein Begriff, der aussortiert. Eine Mutter mit zwei Kindern, die vielleicht nicht mehr berufstätig sein kann, ist die überhaupt noch ein Leistungsträger? Wer fällt darunter? Es ist einfach ein eiskalter, ökonomischer Begriff. Eigentlich sollte es ein Unwort sein. Über diese Dinge regt er sich dann zunehmend auf und wird wütender. Eigentlich ist es eine gesunde Wut, finde ich."

    Egal ob sie sich als digitale Bohemiens im angesagten Café St. Oberholz einen glamourösen Anstrich verleihen oder nach ihrer Promotion als Pagen in Nobelhotels verdingen, ob sie Programme für Webportale schreiben oder als Filmcutter den Aufträgen hinterherjagen, die Prekarianer in Helmut Kuhns Roman leben mit dem Prinzip Hoffnung und sind Meister darin, sich irgendwie durchzuschlagen. Nicht nur aus sportlichen Gründen betreibt Kuhns Romanfigur Thomas Frantz - übrigens ebenso wie ihr Schöpfer - eine Hybridsportart, die der Künstler Iepe Rubingh erfunden hat, das Schachboxen.

    "In diesem Schachboxen lernen die Leute sprichwörtlich, sich intelligent durchzuschlagen. Das sind auch alles Leute, die tatsächlich im weitesten Sinne aus dem Prekariat kommen oder junge Leute, die sich wirklich im Leben noch durchschlagen, die sich da dieses Rüstzeug holen in diesem Intellectuell Fightclub. Es gibt ja auch diese Geschichte "Fight Club" von Palahniuk, wo so eine Art revolutionäre Zelle in diesem Fight Club entsteht. In diesem Schachboxklub ist es ebenso. Es kommt dann später zu so einer Farbaktion, so einer Guerilla-Kunstaktion, die minutiös geplant ist und stadtguerillamäßig ausgeführt wird. Später stellt sich dann heraus, dass die ganze Aktion kommerzialisiert wird, weil es dann zu einem einminütigen Youtube-Video schrumpft, dessen Sinn darin besteht, dass man Werbung draufschaltet."

    Immer wieder findet Helmut Kuhn die richtigen Bilder, um die Einzelkämpfer des Prekariats in seinem realitätsnahen, teilweise geradezu dokumentarisch anmutenden Roman in Szene zu setzen. Der Sturm auf den Media-Markt zur Eröffnung des Kaufhauses Alexa, die Prekarianer-Demo auf dem Bebelplatz, die Jugendlichen aus Bosnien, die sich als Stricher verkaufen und mit Öko-Spießern vom Prenzlauer Berg einen Platz teilen oder die wechselvolle Geschichte eines jüdischen Kreditwarenhauses, das 1933 von der Hitlerjugend, nach 1945 von der SED und nun von einem internationalen Heuschreckenkonsortium übernommen wurde, all das ist real, gut recherchiert und beobachtet. Ein simples Straßenschild mit der titelgebenden Aufschrift "Gehwegschäden", das man in Berlin beinahe an jeder Ecke sehen kann, wird bei Helmut Kuhn zur Metapher.

    "Was bedeutet dieses Schild? Es bedeutet: Lieber Bürger, der Gehweg ist kaputt oder der Bürgersteig ist brüchig. Das ist erstmal schon ne Feststellung. Es bedeutet auch: Lieber Bürger, wenn du hier lang läufst und auf die Schnauze fällst und dir ein Bein brichst, zahlen wir nicht. Es heißt aber auch: Wir machen hier nichts mehr. Es wird hier nichts mehr repariert, wir haben resigniert, wir haben uns mit diesem Zustand abgefunden, wir verwalten den Verfall nur noch. Und das fand ich irgendwann so ein wahnsinnig treffendes Sinnbild für den Zustand der Gesellschaft, dass wir sehen: Es springt uns noch nicht so ins Auge. Wir sind nicht in Somalia, wir haben keine Hungersnot. Es ist aber ein kleines Schild, das uns doch irgendwann mal ins Auge springt und uns sagt: Stopp! Irgendetwas ist hier kaputt und wir machen nichts mehr dran."

    "Gehwegschäden" von Helmut Kuhn ist einer der besten Berlin-Romane der letzten Jahre, atmosphärisch dicht und detailgenau. Wie bei Döblin gibt es Beschreibungen von ganzen Straßenzügen und der gesamten Bewohnerschaft eines Mietshauses. Auch von der Döblinschen Montagetechnik ließ sich Kuhn inspirieren. Schaukästen, Werbespots, Daily Soaps werden als Wirklichkeitssplitter in das Romangeschehen integriert. Was 1929 als literarische Innovation galt, funktioniert auch heute noch erstaunlich gut. "Gehwegschäden" ist wie sein berühmtes Vorbild nicht nur ein Roman über das Lebensgefühl im östlichen Zentrum der Hauptstadt, sondern benutzt dieses Soziotop für einen Gegenwartsbefund, der bei allem Humor - den es in Kuhns Roman auch gibt - nicht unbedingt fröhlich stimmt.

    "Wenn Sie vor zwanzig Jahren beispielsweise ein Sozialarbeiter waren und sind in eine Kneipe gegangen in Kreuzberg. Dann waren Sie ein Held. Sind Sie ein Werbermensch gewesen und sind in dieselbe Kneipe gegangen, dann waren Sie ein Arschloch, weil Sie Lügen verkauft haben und damit viel Geld verdient haben. Heute ist es genau umgekehrt: Heute ist der Werber der großer Zampano, weil er viel Geld verdient, ganz egal womit, und der Sozialarbeiter ist ein Volltrottel, weil er wenig Geld verdient und auch noch was für andere tut. Igittigitt. Also das ist ein Wertewandel innerhalb von kürzester Zeit. Das finde ich erstaunlich."

    Helmut Kuhn: Gehwegschäden.
    Frankfurter Verlagsanstalt, 443 Seiten, 22,90 Euro