Archiv


Frühgeburten

Rund sieben Prozent aller Kinder kommen zu früh zur Welt. Tendenz steigend: durch ein höheres Alter der werdenden Mütter und zunehmende Mehrlingsschwangerschaften. In den letzten 20 Jahren haben die Perinatalmediziner vor allem darum gerungen, immer extremere Frühgeburten durchzubringen. Besonders mit Hilfe aufwendiger Apparatemedizin. Jetzt geht der Trend in eine andere Richtung, so der Tenor auf dem 21. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin, der gerade in Berlin stattfindet. Sanftere Methoden sollen das Leben der Frühgeborenen nicht nur retten, sondern auch verbessern.

Von William Vorsatz |
    Jahrzehntelang ist immer mehr machbar geworden in der Medizin. Dies galt auch bei den Frühgeburten. Ständig haben die Perinatalmediziner das Alter gesenkt, ab wann ein Fetus als überlebensfähig gilt. Aber jetzt scheint das Ende der Fahnenstange erreicht: Kongresspräsident Prof. Klaus Vetter vom Vivantes Klinikum Berlin-Neukölln:

    Irgendwo haben wir den Eindruck, dass in den letzen Jahren doch mal der biologische Unterrand in Griffnähe gekommen ist. Und man versucht auch hier, in die Entscheidungsprozesse die Eltern mit hinein zu nehmen. Das reine medizinische Wissen muss auch noch umgesetzt werden in ein Handlungskonzept, dass dann für alle Beteiligten mit vernünftigen Aussichten versehen ist.

    Im Klartext: die Geburtsmediziner wollen nicht allein entscheiden, ab wann ein Kampf um Leben und Gesundheit noch lohnt. In anderen Ländern gibt es starre Grenzen, Für die Schweiz beispielsweise ab der 26. Schwangerschaftswoche. In Deutschland gilt die 24. Woche als Richtwert, Tendenziell jedoch steigt die Grenze wieder, weil die Chancen allzu früh geborener Kinder stehen. Da sind zunächst die akuten Risiken. Am bedrohlichsten: unausgereifte Lungen. Dagegen werden der schwangeren Mutter Hormone gegeben, um die Lungenreifung zu beschleunigen. Bei einer zu erwartenden Frühgeburt tun die Ärzte dies heute bereitwilliger. Aber dafür nicht mehr wiederholt, sondern nur noch ein bis zwei mal - kurz vor der Geburt. Dadurch sollen Nebenwirkungen vermieden werden. Auch nach der Geburt werden die Lungen heute besser versorgt, erläutert Professor Hans-Ulrich Bucher vom Universitäts-Spital Zürich:

    Wir beatmen nicht mehr, d. h. wir führen nicht mehr einen Schlauch in die Luftröhre, und pumpen da Luft ein und aus, sondern, wir lassen das Kind gegen einen geringen, aber doch spürbaren Widerstand selber atmen. Das hat zur Folge indirekt, dass die Lungenfunktion sich verbessert, das Kind übernimmt aber die Kontrolle über seine Atmung selbst, ist also viel weniger die Gefahr, dass da Schäden entstehen, weil das Kind die Führung behält.

    Auch bei einem anderen akuten Risiko halten sich die Perinatalmediziner jetzt zurück. Gegen drohende Infektionen verabreichen sie nicht mehr, wie noch vor einigen Jahren üblich, vorbeugend Antibiotika. Obwohl gerade bei Frühgeborenen Infektionen sehr schwer zu erkennen sind. Statt dessen ist eine intensivere Einzelbetreung durch qualifiziertes Personal gefragt. Selbst bei zusätzlichen Schläuchen und Kathetern sind die die Ärzte neuerdings sparsam geworden: alles Fremdkörper, die das Immunsystem zusätzlich belasten. Sanftere Medizin aber auch gegen die dritte große Bedrohung:
    Das schlägt sich sicher auch bei der Entstehung von Hirnblutungen nieder. Obwohl wir noch nicht letztlich wissen, was alles dazu beiträgt: aber wenn wir Stress wegnehmen, wenn wir bei solchem Kind die starke Belastung, Blutdruckschwankungen beispielsweise, das ist klar nachgewiesen, wenn wir solche Dinge vermindern können, wenn wir solche Dinge vermeiden können, dann wirkt sich das auch auf die Häufigkeiten und vor allem auf den Schweregrad von Hirnblutungen aus.

    Ein gutes Beispiel für den Trend zu schonender Technik sind die neuen, leiseren Inkubatoren. Im Inneren der Vorgänger war es noch laut wie auf einer Straßenkreuzung.
    Verschiedene Messungen des Gehirnvolumens im Kernspintomographen zeigen, dass Frühgeborene deutlich weniger graue Gehirnzellen besitzen. Aber damit nicht genug. Professor Rainer Rossi vom Vivantes-Klinikum Neukölln:

    Es wird, je länger man Frühgeborene nachuntersucht, deutlich, dass viele Kinder eben doch Störungen in Sozialverhalten haben. In der intellektuellen Entwicklung, und so ganz langsam versteht man, dass offensichtlich die Fähigkeit des Gehirns, des Großhirns, adäquat nach einer solchen Ausnahmesituation der Frühgeburtlichkeit zu wachsen, eingeschränkt ist.

    Deshalb brauchen die Frühgeborenen auch später noch spezielle medizinische und soziale Betreuung, um ihr Leben zu meistern.