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Frühmenschen kamen über Georgien nach Europa

Der Südkaukasusstaat Georgien versucht derzeit massiv, den Anschluss an Westeuropa zu bekommen. Georgien in Europa? Historisch ist das gar nicht so abwegig. Denn in Georgien liegt Kolchis, jenes Reich, in dem der antiken Sage nach Jason an Land ging, um das Goldene Vlies zu rauben.

Von Thomas Franke | 05.11.2009
    Vormittags im georgischen Nationalmuseum. David Lordkipandze hat Besuch.

    "Aber bevor wir gehen, möchte ich noch etwas zeigen."

    Er holt einen Schädel aus einem Panzerschrank. Der Kopf ist gelb, sieht aus wie aus Wachs. Er wurde in Dmanisi gefunden, im Osten Georgiens, nicht weit von der Grenze zu Armenien.

    "Das ist unsere Trophäe. Bisher haben wir den Fund noch nicht veröffentlicht. Dieser Schädel ist 1,8 Millionen Jahre alt. Es ist der am besten erhaltene aus dieser Zeit. Er hat alle Zähne, und wir haben auch einen Kiefer dazu. Das ist eine große Überraschung und ein Geschenk."

    Es ist der fünfte Schädel, den sie gefunden haben. Noch wird der Schädel analysiert, sagt er, wahrscheinlich werden die Ergebnisse im nächsten Jahr publiziert. Lordkipanidze will später mit den Besuchern zu der Grabungsstätte fahren. Doch erst mal möchte er das Museum zeigen.

    David Lordkipanidze ist Archäologe und Direktor des georgischen Nationalmuseums. Seit Ende der 90er-Jahre leitet er die Grabungen in Dmanisi, auch, weil er ein Talent ist, Gelder einzuwerben und Sponsoren zu überzeugen. David Lordkipanidze setzt alles daran, damit Georgien den Anschluss an die wissenschaftliche Welt bekommt. Die Funde aus Dmanisi helfen ihm dabei. Es sind, und das betont Lordkipanidze immer wieder, die ältesten menschlichen Funde außerhalb Afrikas.

    "Das zeigt uns, dass Europa viel früher von Menschen besiedelt wurde, als bisher angenommen. Das ist ein unglaublicher Fund. Er hilft uns, die Wanderungsbewegungen von Menschen aus Afrika heraus zu verstehen. Ich bin mir sicher, dass diese Menschen Westeuropa besiedelt haben."
    Bisher waren Wissenschaftler davon ausgegangen, dass der Homo erectus, der aufrecht gehende Mensch, Afrika etwa eine Million Jahre später verlassen hat. Auch der Diskussion, wie diese frühen Menschen nach Norden, nach Europa gekommen sind, gaben die Funde von Dmanisi neuen Schwung. Es gibt im Wesentlichen zwei Thesen: Die eine besagt, dass der Homo erectus über die Meerenge bei Gibraltar und die Iberische Halbinsel nach Norden kam. Die zweite geht davon aus, dass die Wanderungsbewegung über Suez und den Nahen Osten stattfand. Die Funde in Georgien untermauern die zweite Annahme. Zumal die Archäologen in Dmanisi außer den Knochen auch Werkzeuge ausgegraben haben, die denen ähneln, die im heutigen Tansania in Afrika gefunden wurden.

    Deren Alter wird auf 2,5 Millionen Jahre geschätzt, 700.000 Jahre vor den Funden in Dmanisi also. Lordkipanidze ist sich sicher, dass Menschen von Afrika aus zunächst nach Dmanisi kamen und von hier Asien und Europa besiedelten.

    Und die 1,85 Millionen Jahre alten Knochen aus Dmanisi helfen den Georgiern, der Welt zu beweisen, dass ihr Land Teil Europas ist. Die georgische Regierung will das Land in die EU führen. Jeder Hinweis auf europäische Wurzeln ist da höchst willkommen. Dazu dienen auch antike Mythen. Kolchis liegt in Georgien, jenes sagenumwobene Land, aus dem Medea stammte und in das die Griechen kamen, um das goldene Vlies zu rauben.
    Deshalb sorgt Lordkipanidze dafür, dass die Ausstellungsstücke in den Museen der ganzen Welt gezeigt werden. Ständig telefoniert er in verschiedenen Sprachen, hält Kontakt mit Wissenschaftlern aus aller Welt. Auch an diesem Tag hat er Besuch: Wolfgang Levermann von der VW-Stiftung aus Hannover und die Paläontologin Angela Bruch aus Frankfurt sind da. Lordkipanidze öffnet einen großen Holzkasten. Darin steht eine Figur, etwa 1,30 groß, mit dunklen struppigen Haaren.

    "Das ist eine Nachbildung des Hominiden aus Dmanisi. Es gibt keine Stirn. Der Kopf ist sehr klein. Sehr wichtig ist aber, dass er zwar einen sehr primitiven Kopf hat, seine Beine aber sehr modern sind. Die sind nicht affenartig. Das sind menschliche Beine, wie später beim Homo Sapiens. Das zeigt uns, dass sie sehr gute Läufer waren. Und es wirft einige Thesen auf: zum Beispiel, dass in der menschlichen Entwicklung erst der aufrechte Gang kam und dann die Vergrößerung des Hirns."
    Und es gab noch eine Erkenntnis. Im Jahr 2005 fanden die Forscher einen Schädel, dessen Besitzer schwer erkrankt gewesen sein muss. Er hatte keine Zähne mehr, hätte eigentlich sterben müssen. Er wurde offensichtlich ernährt – ein Indiz für frühes soziales Verhalten, das in dieser Form eigentlich erst den Neandertalern zugeschrieben wurde.

    "Das ist ein Vorfahre von uns allen. Wie direkt diese Linie allerdings ist, das ist auch eine unserer Fragen. Darauf haben wir noch keine Antwort."

    "Ich würde gern zeigen, was unsere Philosophie ist."

    Lordkipanidze führt seine Besucher durch lange Gänge. Sie sind leer. Derzeit ist das Nationalmuseum geschlossen, wird generalüberholt. Der Parkettfußboden ist an vielen Stellen abgenutzt, an anderen bereits erneuert. Administrativ ist es seit 4 Jahren bereits reformiert. Lordkipanidze wurde vor Kurzem von der Senckenberggesellschaft für Naturforschung geehrt. In der Würdigung heißt es: "Unter seiner Leitung verwandelt sich das Museum kontinuierlich von einer typischen Sowjeteinrichtung in eine pulsierende Stätte für Kultur, Bildung und Wissenschaft."
    "Das Museum ist der Ort, an dem wir hauptsächlich über Wissenschaft reden. Es ist so wichtig zu zeigen, dass das Museum pulsiert und nicht nur eine Sammlung ist. Wir reden hier über unsere Forschungen, halten öffentliche Vorlesungen, Abendvorträge für unterschiedlichste Leute."

    Wolfgang Levermann von der VW-Stiftung guckt skeptisch.

    "Glauben Sie, dass die Öffentlichkeit interessiert ist an Wissenschaft und Wissen?"

    "Ich glaube, die Leute sind interessiert. Besonders sollte man mit Kindern arbeiten. Wenn man mit Kindern arbeitet, dann arbeitet man auch mit den Eltern. Ich glaube, das ist der einzige Weg. Und wir dürfen keine Wissenschaftssprache benutzen. Dann bin ich mir sicher, erreicht wir mehr und mehr Leute. Unsere erste Botschaft, wir öffnen Türen."

    Im zweiten Stock stehen Vitrinen mit Werkzeugen und Waffen. Sie stammen aus der Antike, aus Kolchis.

    "Jetzt werden wir sehen die neuen Funden. Ein Teil ist hier, ein Teil ist in Getthi now. Wir machen eine Ausstellung."
    David Lordkipandzes Schwester kommt dazu. Nino Lordkipandze ist Archäologin, hat mal klassische Philologie studiert. Bereits der Vater war Archäologe und Gründer der georgischen Gesellschaft für Archäologie. Er war berühmt und gut vernetzt, vor allem mit Deutschland. So war er Humboldtpreisträger und kooperierte eng mit deutschen Archäologen. Seine Kinder, David und Nino, setzen diese Tradition fort. Die Bindungen an Deutschland sind eng, es gibt Beziehungen zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz, mit dem Bergbaumuseum in Bochum und dem römisch-germanischen Zentralmuseum in Mainz. Nino Lordkipanidze zeigt auf eine Reihe von Äxten.

    "Kolchische Kultur ist schon bekannt ab dem neunten, achten Jahrhundert vor Christus. Das achte, siebte Jahrhundert ist wirklich der höchste Punkt der Entwicklung. Und typische Elemente der kolchischen Kultur sind die kolchischen Äxte. Die hier präsentiert sind und wir haben verschiedene Horte in Westgeorgien. An der Schwarzen-Meer-Küste und auch in den Bergen, im Gebirgszonen von Westgeorgien. Und in diesen Horten, sie haben fast alle Werkzeuge und vor allem in der Mehrheit sind gerade die Äxte und Sie sehen, die Verschiedenheit in der Form und auch, was sehr wichtig ist, Gravierungen und auch die Ornamente wie Tierdarstellungen auf den Äxten hier."
    Nicht nur die Ornamente sind typisch für die Äxte aus Kolchis ist, auch, dass sie abgerundet sind.

    "Die Waffen sind in großer Menge auch aus Bronze. Aus Bronze haben wir auch Eisenwerkzeuge und auch Schwerter und Lanzen. Alle Objekte sprechen dafür, dass in diesem Gebiet, im kolchischen Gebiet, auch im Hochgebirgen Metallurgie besonders entwickelt war."
    Selbst Gold. So ist auch die Geschichte um das Goldene Vlies zu verstehen. Die Argonauten fuhren aus Griechenland nach Kolchis, um dort das Goldene Vlies, das goldene Fell eines Widders, zu rauben. Damals führten die Flüsse im heutigen Georgien Goldstaub. Wahrscheinlich hielten die Menschen Schaffelle, ins Wasser, damit der Goldstaub darin hängen bleibt.

    "Wir können über einen starken Einfluss vor allem der hellenistischen Kunst sprechen und der Architektur."

    Angela: "Ich habe gelesen, dass die Griechen nur in ihrer Stadt waren und gar nicht so viel Kontakt hatten zum Umland."

    Nino: "In Kolchis?"

    Angela: "Ja, oder am Schwarzen Meer. Ich weiß nicht so genau."

    Nino: "In Kolchis die waren bestimmt präsent. Vielleicht es gab sogar griechische Meister, die am Ort gearbeitet haben. Weil wir um Beispiel auf einem Siegelring griechische Inschriften haben und in Wani im Eingang, also, im Stadttor, war eine griechische Inschrift."
    David Lordkipanidze drängt zum Aufbruch. Er will zur Grabungsstelle in Dmanisi, dorthin, wo er die 1,85 Millionen Jahre alten Knochen von Menschen gefunden hat, seinen ganzen Stolz.
    Zwei Stunden dauert die Fahrt in Richtung Südosten, auf einem Stück der alten Seidenstraße. Die Gegend wird bergig, Ausläufer des Südkaukasus. In den Schluchten sattes grün, reißende Flüsschen. Sie hätten hier ein Weinfeld gefunden, das 7000 Jahre alt sei, erläutert Lordkipanidze, wenn nicht sogar älter. Wein ist auch so ein Mittel für die Georgier auf dem Weg nach Europa. Sie behaupten gern mal, dass in Georgien der Wein erfunden wurde. Vorbei geht der Weg an alten Minen, 5000 Jahre alt. Hier forschen die Georgier gemeinsam mit dem Bergbaumuseum in Bochum. Bisher ist nicht nachzuweisen, dass Medeas Gold von hier stammt. Sie arbeiten aber daran, erläutert Lordkipanidze, möglich sei es schon.

    "Wir nähern uns Dmanisi, dort zur Linken. Wir sind etwa fünf Kilometer von der Grabungsstätte entfernt. Das hier ist alles Vulkanlandschaft, und die Lavaströme helfen uns sehr. Mit ihrer Hilfe können wir die Landschaft und die Umwelt datierten. Angela, hast du jemals diese Profile zur rechten gesehen? Das hier ist ein strategischer Ort. Im Mittelalter war dieser Felsvorsprung wie eine natürliche Verteidigungsanlage."
    Reste mittelalterlicher Gebäude sind zu sehen, etwa 1000 Jahre alt, graue Feldsteine, etwas erhöht eine Kirche, noch in Betrieb: Dmanisi. Der Ort wurde im 18. Jahrhundert zerstört, erläutert Lordkipanidze. Christen haben dort gewohnt und Moslems. Es gibt Reste muslimischer Kultur. Dmanisi war ein Durchgangsort für die Karawanen zwischen Byzanz, und den Zentren in Armenien und Persien. Und das schon früh. Es soll hier bereits im fünften Jahrhundert eine befestigte Siedlung gegeben haben. Darunter wurden Reste einer bronzezeitlichen Siedlung entdeckt.

    Bereits in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurde hier gegraben. Für Paläontologen interessant wurde Dmanisi aber erst durch den Fund eines Nashornzahns aus der Zeit vor der letzten Eiszeit.

    Ein befestigter Weg führt direkt zu einer Grube, vielleicht 15 Meter im Quadrat und knapp zwei Meter tief. Aus den Wänden ragen Knochen. Ein festes Dach schützt die Funde. Der Museumsdirektor bückt sich.

    "Dieser Knochen ist etwa 1,8 Millionen Jahre alt. Man kann ihn aber noch nicht herausnehmen. Wir müssen warten, bis die Erde darüber abgetragen ist, und wir ihn erreichen. Und dann kann ich Ihnen sagen, zu wem dieser Knochen gehört. Denn es ist definitiv ein Tierknochen, kein menschlicher. Für diesen hier gilt das gleiche, aber wir werden ihn schneller erreichen. Über ihm sind nur noch 30 Zentimeter Erde."
    David Lordkipanidze berührt die Knochen nicht. Es könnte etwas kaputt gehen.

    "Einer der nächsten Schritte ist, dass wir das hier als Welterbe vorbereiten. Das heißt, dass wir nicht allein dafür verantwortlich sind, diese Stätte für die Menschheit zu bewahren und zu schützen."
    Ein Wachdienst sorgt rund um die Uhr dafür, dass niemand die Grube betritt. Schutz ist wichtig. Schon oft wurden solche Grabungsstätten von Souvenirjägern geplündert.

    Dmanisi, mit den Wiesen und Bäumen, dem Wasser und der mittelalterlichen Siedlung oberhalb der Grabungsstätte, soll ein Ausflugsort für die ganze Familie werden und eine Kultstätte der Wissenschaftler, so Lordkipanidze. Archäologie live.

    "Ich würde sagen, dass Archäologie uns hilft, nach Europa zu kommen. Wir müssen zunächst mit den Werten und den gesellschaftlichen Standards anfangen. Und ich glaube, dass Archäologie und Paläontologie und die Wissenschaft insgesamt in Georgien europäischen Standards genügen sollten. Das legt für uns die Grundlage auf dem Weg Richtung Europa."
    Wären die alten Knochen wenige Kilometer weiter südlich gefunden worden, auf der anderen Seite des Berges, dann wären die ältesten Europäer heute nicht Georgier, sondern Armenier.
    "Im Moment ist es so, dass hier die ältesten menschlichen Funde in Europa liegen. Da haben wir Glück gehabt."

    Lordkipanidze telefoniert wieder. Bisher ist nur ein kleiner Teil in Dmanisi erforscht. Es können also noch weit spektakulärere Funde zutage treten, als die 1,85 Millionen Jahre alten menschlichen Knochen.