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Frust und Zorn junger Männer

Die Jugendgewalt in Deutschland hat in den vergangenen Jahren polizeilichen Daten zufolge erheblich abgenommen. Dennoch denken viele noch immer, die heutige Jugend sei besonders brutal. Daher rührt der schnelle Ruf nach härteren Strafen. Forschungen belegen, dass eine liebevolle Erziehung viel entscheidender ist.

Von Ursula Storost | 17.11.2011
    Auszug Reportage Spiegel TV:

    "Es sind Verbrechen wie aus dem Nichts. Hemmungslos brutal und manchmal tödlich."

    Jugendgewalt bedroht die Gesellschaft. So verkünden fast täglich die Medien.

    "Ich hab immer zugeschlagen."

    Dabei, man mag es kaum glauben, hat die Jugendgewalt in den letzten Jahren erheblich abgenommen, Und die Taten seien auch keineswegs brutaler geworden, sagt Professor Christian Pfeiffer, Leiter des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen.

    "Nehmen wir das Allerschlimmste: Tötungsdelikte. Seit Mitteilung der Polizei seit 1993 um ein Viertel zurückgegangen. Allein im letzten Jahr um 13 Prozent."

    Rückgang der Jugendgewalt auch an Schulen. Sowohl bei einfacher Rauferei als auch bei Körperverletzung. Christian Pfeiffer stellte fest: Jugendgewalt hat laut polizeilicher Daten in den letzten drei Jahren deutlich abgenommen.

    "Im Dunkelfeld hat es schon früher begonnen. Parallel dazu war aber die Anzeigebereitschaft gestiegen. Deswegen hatte die Polizei noch eine Zeit lang mehr Arbeit obwohl die Jugendgewalt schon sank. Weil die Opfer mutiger geworden sind, sich an die Polizei zu wenden."

    Dass die meisten Bundesbürger trotzdem glauben, es heutzutage mit einer brutalen Jugend zu tun zu haben, führt Christian Pfeiffer vor allem auf die Berichterstattung der Medien zurück. Noch nie seien insbesondere im Fernsehen, derart viele Gewaltpräsentationen gesendet worden. Fiktive und Reale. Nicht nur die Privatsender hätten hier in den letzten Jahren kräftig zugelegt.

    "Bei ARD eine Verdoppelung seit 2004 von vier auf acht Prozent des gesamten Sendevolumens. Und bei ZDF eine Steigerung von acht auf zwölf Prozent. Also wir sehen mit Sorge, dass die Menschen überfüttert werden mit Gewalt und dann natürlich glauben, dass alles schlimmer wird."

    Angestachelt von derartiger medialer Berichterstattung, würden die meisten Bundesbürger zum Beispiel angeben, dass sich Sexualmord in den letzten Jahren vervierfacht hätte.

    "Obwohl er in Wirklichkeit auf ein Viertel zurückgegangen ist. Und wenn sie diese Panikvorstellungen haben, sind sie dann für harte Strafen."

    Die Forderung nach harten Strafen, nach einem Warnschuss-Jugendarrest ist nimmt zu. Wir hatten vor Jahren schon mal mehr Reflexion über straffällig gewordene Jugendliche, behauptet Professor Heribert Ostendorf. Der ehemalige Generalstaatsanwalt leitet die Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention an der Universität Kiel.

    "In Wahrheit erreichen wir mit härteren Strafen durchweg nicht mehr Sicherheit. Die Rückfallquoten sind am größten nach Verhängung von Jugendstrafen, nach Verhängung von Jugendarrest. Wir müssen ganz nüchtern zur Kenntnis nehmen, dass harte Strafen keine Gewähr für mehr Sicherheit in der Bevölkerung darstellen."

    Im übrigen, so Heribert Ostendorf, müsse man sich klar darüber sein, dass Jugendliche allgemein auf der Suche nach einem eigenen Standort sind. Mit allen Risiken und Nebenwirkungen. Eben auch Straftaten.

    "Von daher werden wir es immer mit Übertretungen, auch mit Gewalttaten zu tun haben. Es geht immer nur darum diese zu reduzieren. Wir werden sie nicht ausmerzen können."

    Dass gebetsmühlenartig nach härteren Strafen gerufen wird, ist für Dr. Nadine Bals kulturell transportiert. Die Kriminologin ist Geschäftsführerin der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen

    "Wir kennen den Spruch, wer nicht hören will, muss fühlen. Das wird immer so weiter gegeben. Das ist Kulturgut quasi. Und wirklich zu kucken, wie und ob Strafen denn überhaupt funktionieren. Sich differenziert auf diese Diskussion einzulassen, das ist ja keine einfach Frage von schwarz oder weiß, strafen oder nicht, sondern es ist eine Frage wie wir angemessen reagieren können."

    Ein Umfrageergebnis des Niedersächsischen Forschungsinstituts belegt einmal mehr, wie entscheidend eine liebevolle Erziehung ist. Jugendgewalt wird produziert von prügelnden Elternhäusern, sagt Christian Pfeiffer. Aber es gibt Hoffnung.

    "Diesmal konnten wir 11.000 Menschen einbeziehen. Der Altersgruppe 16 bis 40. Zeigt sich bei den Älteren dieser Gruppe, deren Kindheit 25 Jahre zurückliegt, dass sie noch bis 54 Prozent ziemlich massiv geschlagen worden sind. Und bei den Jüngsten, den 16- bis 20-Jährigen, nur noch zu 37 Prozent. Umgekehrt hat die gewaltfreie Erziehung zugenommen. Und die Zuwendung der Eltern, dass sie ihr Kind in den Arm nehmen, dass sie es schmusen, dass sie es loben, dass sie es trösten wenn es weint."

    Es sind die Erwachsenen einer Gesellschaft, die über das Ausmaß von Jugendgewalt entscheiden. Eigene Reflexion und Zivilcourage kann Kinder zu friedfertigen Mitmenschen erziehen. Auch Jugendliche mit Migrationshintergrund, denen besondere Gewaltbereitschaft nachgesagt wird.

    "Wenn sie aber zu Hause viel Gewalt erfahren. Wenn sie, obwohl sie begabt sind, in der Hauptschule landen. Wenn sie sozial keinen Anschluss finden. Dann sind sie Außenseiter und sind natürlich gewalttätiger als der Durchschnitt."

    Lösungen zeigt ein Projekt in Hannover. 1500 Menschen geben dort kostenlos Nachhilfeunterricht für Migrantenkinder.

    "Dort hat sich ihr Gymnasialanteil und Realschulanteil drastisch erhöht. Nur noch 30 Prozent in der Hauptschule. Früher war es die Hälfte. Und parallel dazu ist ihre Jugendgewaltrate von 15 auf sieben Prozent gesunken. Sie sind jetzt fast so wie die Deutschen."

    Bildung und Teilhabe an der Gesellschaft sind der Schlüssel für ein gelungenes Leben. Bei den Justizbehörden hat sich das offenbar noch nicht herumgesprochen. Wie anders sei es zu erklären, dass zum Beispiel jugendliche Untersuchungshäftlinge im Hamburger Gefängnis Hannöversand unter primitivsten Bedingungen untergebracht sind, fragt Dr. Jan Beyer. Der ehemalige Gymnasiallehrer und Erziehungswissenschaftler betreut dort ehrenamtlich inhaftierte Jugendliche.

    "Die Jugendlichen sind 23 Stunden am Tag in einer sehr, sehr kleinen Zelle in Einzelhaft. Schlecht möbliert. Das Toilettenbecken steht zwei Meter neben dem Frühstückstisch. 23 Stunden, die nicht vergehen wollen. Und diese leere Zeit, die diese Jugendlichen nicht gelernt haben zu füllen, die bewirkt Langeweile und lässt ein Aggressionspotenzial wachsen. Die werden immer böser, immer bösartiger, immer gewalttätiger."