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Fühlende Härchen

Medizin. - Die Lunge ist mit ihrer eigenen Müllabfuhr ausgestattet: Winzige Flimmerhärchen auf der Oberfläche der Zellen tief im Inneren der Lungenflügel schlagen beständig hin und her und entfernen so alle Stäubchen und Fremdstoffe. Eine neue Arbeit in der Zeitschrift "Science" zeigt , die Flimmerhärchen reagieren auf ihre Umgebung, sie schmecken Gefahr.

Von Volkart Wildermuth |
    Wie ein Büschel winziger Finger ragen die Flimmerhärchen aus der Oberfläche der Zellen in der Lunge, sie beugen und strecken sich, beugen und strecken sich, bewegen fleißig den Schleim Richtung Luftröhre, Richtung Ausgang. In der Lunge dienen Flimmerhärchen so als Müllabfuhr, im Eileiter treiben sie die Eizelle Richtung Gebärmutter. Verwandte Strukturen finden sich auf der Oberfläche von Sinneszellen. Die Zäpfchen und Stäbchen des Auges, die Riechzellen der Nase und die Geschmackszellen auf der Zunge tragen jeweils ein einziges Härchen. In diesem Fortsatz ist die Wahrnehmungsmaschinerie der Zellen untergebracht. Hier wird Licht, werden Geruch und Geschmack zuerst registriert. Flimmerhärchen und Sinneshärchen - ähnliche Strukturen aber ganz unterschiedliche Aufgaben. Alok Shah von der Universität von Idaho fragte sich, ob die Trennlinie wirklich so scharf ist. Mit genetischen Methoden suchte er in Lungenzellen nach Geschmacksrezeptoren, nach den Antennen, die süße, saure, salzige und bittere Substanzen erkennen.

    "Es war aufregend, in den Flimmerhärchen der Atemwege gibt es Geschmacksrezeptoren."

    Die Lunge hat allerdings für Süßes oder Saures kein Gespür sie kennt nur einen einzigen Geschmack: bitter. Und anders als in der Zunge wird das Signal bitter nicht über Nerven ans Gehirn weitergemeldet sondern direkt vor Ort in die passende Reaktion umgesetzt. Das konnte Alok Shah an einer Art Lunge im Reagenzglas zeigen. Auf einer Membran züchtet der Forscher menschliche Lungenzellen in einer Nährflüssigkeit. Nach einer Weile kippt er die Flüssigkeit oben weg. Sobald die Zellen der Luft ausgesetzt sind, organisieren sie sich wie in der Lunge, bilden ein mehrschichtiges Gewebe mit Drüsenzellen, die Schleim absondern, und Zellen mit Flimmerhärchen, die diesen Schleim bewegen.

    "Wir haben bittere Substanzen über dieses Lungenmodell geblasen und festgestellt, die Flimmerhärchen schlagen dann schneller. Das passte, es ist ein neuer Verteidigungsmechanismus in den Atemwegen. Die beweglichen Flimmerhärchen können schmecken. Wenn sie etwas Bitteres wahrnehmen, schlagen sie schneller und räumen die Substanz raus."

    Nikotin zum Beispiel lässt die Flimmerhärchen schneller schlagen, ebenso Chinin und eine Vielzahl anderer bitterer Substanzen. Dass gerade der bittere Geschmack eine Reaktion auslöst, ist kein Zufall, bitter bedeutet im Allgemeinen Gefahr. Im Mund können das verdorbene Lebensmittel sein, in der Lunge spielen wahrscheinlich Bakterien eine größere Rolle. Pseudomonas aeruginosa ist ein Keim, der Lungenentzündungen verursacht. Sind nur wenige Erreger vorhanden, vermehren sie sich langsam. Übersteigt die Zahl der Erreger eine bestimmte Schwelle, dann verändern sie ihr Verhalten, sie bilden einen zähen Biofilm und führen zu einer schweren Erkrankung. Diese Veränderung des Verhaltens wird durch einen Botenstoff ausgelöst und dieser Stoff ist bitter. Es macht also Sinn, bittere Bakterien schleunigst aus der Lunge zu entfernen. Die Flimmerhärchen sind dafür ein elegantes Abwehrsystem: Das kleine Zellorgan, das die Gefahr wahrnimmt, ist auch gleich in der Lage, etwas gegen sie zu unternehmen. Infektionen mit Bakterien wie Pseudomonas sind vor allem ein Problem, wenn die Müllabfuhr in der Lunge nicht richtig funktioniert. Bei der Erbkrankheit Mukoviszidose zum Beispiel ist der Schleim der Lunge so zäh, dass ihn die Flimmerhärchen kaum bewegen können. Alok Shah hält es für möglich, dass sich hier der Geschmackssinn der Flimmerhärchen therapeutisch nutzen lässt mithilfe des Bitterstoffs Denatonium.

    "Denatonium ist die bitterste bekannte Substanz, sie ist gleichzeitig völlig harmlos. Wenn Patienten sie einatmen, könnte das die Reinigung der Lunge stimulieren."

    Vorerst sind das theoretische Überlegungen. Mukoviszidose ist ein Schwerpunkt des Labors von Alok Shah. Er plant, demnächst auch Reagenzglaslungen aus Gewebeproben dieser Patienten zu züchten und seine Idee zu testen. Bis klar ist, ob bitterer Geschmack in der Lunge heilsam sein kann, rät er aber von Selbstversuchen ab. Nikotin kann zwar die Flimmerhärchen antreiben, doch der Teer der Zigarette dürfte der Müllabfuhr der Lunge ungleich viel mehr zu schaffen machen.