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Fünf Flüche für die DDR

Stefan Wolle legt den dritten und letzten Band seiner DDR-Trilogie vor, der von der Gründungszeit des neuen Staates handelt. Er versucht die DDR nicht von ihrem Ende her zu verstehen, sondern befragt immer wieder die Zeitdokumente, die bei ihm nach Alltag und Erleben klingen.

Von Henry Bernhard | 12.08.2013
    Es gibt Bücher, bei denen es dem Rezensenten schwer fällt, ein griffiges Zitat auszumachen. Dieses Buch dagegen möchte man abschnittweise zitieren. Stefan Wolle beherrscht nicht nur sein Thema souverän, er kann auch schreiben. Ein Beispiel:

    Der große Plan lag auf dem Zeichentisch des imaginären Planungsstabs. Der Mensch sollte Herr der Geschichte, Schöpfer seiner selbst, Meister über die Naturkräfte sein. Ein neuer Turm von Babel würde entstehen, aber diesmal sollte Gott dem Menschen nicht mehr ins Handwerk pfuschen. Wenn es sich in der DDR auch als schwierig erwies, die Kartoffeln von den Feldern in den Gemüsekonsum zu schaffen, so plante man unverdrossen die Umwandlung der Polarregion in einen blühenden tropischen Garten. Es erwies sich zum wiederholten Male, dass es leichter war, das kommende Jahrtausend zu planen, als den nächsten Tag.

    Mit dem dritten und letzten Band seiner Trilogie hat sich Stefan Wolle aus der selbst bewusst erlebten in die papierene, selbst nur als Kind erlebte Geschichte vorgearbeitet – in die Zeit, aber auch in die Hoffnungen und Träume seiner Eltern.

    "Für die war das wiederum die entscheidende Zeit, die frühen 50er-Jahre, wo sie ihr großes Projekt DDR begonnen haben und daran festhielten und es versuchten durchzusetzen und diesen Prozess von Enttäuschung und Desillusionierung mitgemacht haben. Auf der anderen Seite eben die unglückselige Parteidisziplin und den Glauben, man muss an der Sache festhalten und sie verteidigen, auch gegen den Feind im Westen. Also es ist eher dann die Geschichte der Eltern und so eine Art Dialog zwischen den Generationen."

    Auch wenn Wolle sein Buch mit einer sehr gelungenen gespenstischen Parallelbeschreibung des Fackelzugs zur Gründung der Republik 1949 und deren Wiederholung als Farce im Oktober 1989 beginnt, so versucht er die DDR eben nicht von ihrem Ende her zu verstehen, sondern befragt immer wieder die Zeitdokumente. Diese klingen bei ihm nicht nach staubigem Archiv, sondern nach Alltag, nach Erleben.

    So bettet Wolle den Leser regelrecht ein in ganz konkrete Situationen, in politische Konflikte, in Mangelwirtschaft und hohle Parolen. Der Autor lässt ein Gefühl dafür entstehen, warum sich Menschen so oder so verhalten haben und unterstützt diesen Leseeindruck mit Zitaten aus der zeitgenössischen Belletristik oder Lyrik. Immer wieder betrachtet Wolle die DDR auch im globalen Kontext des Sieges der Kommunisten in China, des Koreakrieges, der amerikanischen Roll-Back-Doktrin und der Wiederbewaffnung im Westen.

    "Die Auseinandersetzungen, die wir hier hatten zwischen Ost und West, das war Teil einer globalen, weltpolitischen und historischen Auseinandersetzung, die vielen offenbar die Kraft gab, über die Misshelligkeiten des Alltags hinwegzuschauen und zu sagen, okay, wenn’s bei uns mal das und jenes nicht zu kaufen gibt und wenn wir immer noch Lebensmittelmarken haben, das muss eben so sein, um den Sieg der Völker in der ganzen Welt für Fortschritt, Frieden, Freiheit und Sozialismus voranzubringen."

    Auch wenn Wolle zuerst verstehen will, so sind seine Urteile doch präzise und ohne Sentimentalitäten. Erstaunlich ist, wie ihm Analogien zwischen Faschismus und Sozialismus nicht zu Fallstricken geraten, wenn er etwa die NS-Vergangenheit der SED- und FDJ-Gründergeneration beleuchtet, wenn er zeigt, wie nah auch die frühe DDR – bei vertauschten Vorzeichen – der Nazizeit war. Über die Gründergeneration an den Universitäten der DDR schreibt er:

    Sie waren in der Nazizeit zu jung gewesen, um schuldig zu werden, aber alt genug, um Disziplin, Unterordnung und Härte gelernt zu haben. Nun nutzten sie die Aufstiegschancen, die ihnen der neue Staat bot. Die hermetische Ideologie und die sowjetische Besatzungsmacht gaben ihnen die Sicherheit, der Westen bot ihnen die Feindbilder. Sie fühlten sich im Recht und auf der richtigen Seite der Geschichte. Und irgendwann waren sie so tief in das neue System verstrickt, dass es ohnehin kein Zurück mehr gab.

    Stefan Wolles Grundthese ist, dass die DDR wie von einer bösen Fee fünf Flüche oder Geburtstraumata mitbekommen hat, die sie zu einer "Missgeburt aus asiatischer Despotie und preußischem Militarismus" gemacht habe.

    "Das ist insbesondere die Abhängigkeit von der Sowjetunion; das ist weiterhin die starke ideologische Prägung der DDR durch marxistisch-leninistische Ideologie; das ist die Wirtschaftsordnung, die ja auch von der Sowjetunion importiert wurde in die DDR, und die von vorn bis hinten ja eben schwachsinnig war und nicht funktionieren konnte; und das ist die Unmöglichkeit, sich aus den deutsch-deutschen Zusammenhängen zu lösen; und fünftens schließlich das Globalproblem: Der Mangel an Rechtssicherheit, an Freiheit und an Demokratie."

    Schlägt Wolle eine dialektische Volte: Jedes Trauma sei auch ein Vorteil gewesen, der der DDR zu überleben half. Beispiel: Die Schutzmacht Sowjetunion, die der SED die Macht garantierte.

    Der Autor arbeitet sich parallel chronologisch wie thematisch durch sein Projekt. Er schreibt über die großen Wegmarken, den Arbeiteraufstand am 17. Juni '53, über Stalins Tod, den 20. Parteitag der KPdSU, über lokale Streiks und Unruhen. Ebenso aber über die Masseninszenierungen der Staatsmacht, über den Missbrauch der Jugend, die Erziehung zum Hass, die bewusste Erziehung einer neuen Elite, kulturbürokratische Absurditäten wie den Versuch, weltliche Sakramente wie sozialistische Namensgebung beziehungsweise Eheschließung einzuführen.

    Dabei ist er lieber im Detail präzise als im Ganzen allumfassend. Dies trägt erheblich zum Lesegenuss bei. Ebenso Wolles Gabe, sich in seiner metaphernfreudigen Sprache sicher zu bewegen.

    Die sich über alle drei Bände von Wolles Werk hinziehende Suche nach dem Punkt des Scheiterns, dem Verrat der befreienden Idee, dem Anfang vom Ende beendet Wolle offen, aber nicht ergebnislos:

    "Das ist eigentlich der Dreh- und Angelpunkt: Den Punkt zu finden, an dem die Sache gescheitert ist. Also, diesen Punkt suche ich immer wieder, der muss irgendwo gelegen haben. Er ist sehr schwer zu finden, weil er historisch nicht festzumachen, weil er sehr individuell ist, weil das für jeden ein anderer Punkt gewesen ist."

    Sei es der 17. Juni, seien es die stalinistischen Verbrechen, sei es der Mauerbau oder der niedergeschlagene Prager Frühling: Es gab viele Gründe, sich von der SED-Diktatur abzuwenden. Wolles Verdienst ist es, nicht nur diese Motive verständlich zu machen, sondern auch die Beweggründe derer, die geblieben sind.

    Stefan Wolle: "Der große Plan. Alltag und Herrschaft in der DDR 1949-1961".
    Ch. Links Verlag, 438 Seiten, 29,90 Euro, ISBN: 978-3-861-53738-0