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Fünf Frauen und ein Mann

Jean-Luc Lagarce, der 1995 verstorbene Dramatiker und Regisseur, schrieb ein Stück, das ausführlich vom Warten handelt. Gleich sechs Protagonisten warten, fünf davon räsonieren über Vergangenes, die quälende Gegenwart sowie eine unmöglich scheinende Zukunft. Von der sprachlichen Musikalität ließ sich der 1945 geborene Franzose Jacques Lenot in seiner neuen Oper hörbar inspirieren.

Von Jörn Florian Fuchs | 31.01.2007
    Zugegeben, der ellenlange Titel schreckt ein wenig ab. Was soll man sich bitteschön unter "J'etais dans ma maison et j'attendais que la pluie vienne" (zu deutsch: "Ich war in meinem Haus und wartete, dass der Regen kommt") genau vorstellen? Jean-Luc Lagarce, der 1995 verstorbene Dramatiker und Regisseur, schrieb ein Stück, das weniger vom Regen, allerdings ausführlichst vom Warten handelt.

    Gleich sechs Protagonisten warten, fünf davon räsonieren über Vergangenes, die quälende Gegenwart sowie eine unmöglich scheinende Zukunft. Die immer wieder um sich selbst kreisende Sprache oszilliert dabei zwischen Kargheit und großer Intensität. Lagarce schuf eine minimalistische Bühnensituation irgendwo zwischen Beckett, Tschechow und griechischer Tragödie. Es sitzen da fünf Frauen aus mindestens drei Generationen beisammen: Großmutter, Mutter und drei Schwestern. Die Frauen reden über den nebenan liegenden Jungen, den der Vater einst aus dem Haus warf. Jetzt ist der Junge zurückgekehrt, hat sein altes Kinderzimmer bezogen, offenbar um dort zu sterben. Als ständig in den Gesprächen Anwesender bleibt er auf der Bühne abwesend, nur ganz am Schluss hört die Mutter ein Geräusch von nebenan ...

    Lagarce schafft eine düster-verschommene Atmosphäre voller Rätsel, lässt die Figuren aber immer wieder blitzartig zu sich kommen und reale Gefühle durchleben. Von der sprachlichen Musikalität ließ sich der 1945 geborene Franzose Jacques Lenot hörbar inspirieren, er schuf ein dicht durchrhythmisiertes Klanggewebe, das sich leicht am spätromantischen Schönberg orientiert. Es ist ein nervöser, sehr leiser Musikfluss, der die insgesamt neun Szenen grundiert und verbindet. Jede Szene besitzt dabei noch ihre ganz eigene musikalische Temperatur: am Beginn steht ein Klaviersolo, fast im Stil einer Schumann-Etüde, beim Auftritt der jüngsten Frau gibt es eine zart angedeutete Tanzmusik, in einer mittleren Szene dann auch mal virtuosen A-cappella-Gesang der Frauen - mit vorsichtigen Störgeräuschen eines Männer-Chors aus dem Off. Am eindrucksvollsten gerät Lenot die Bearbeitung mittelalterlicher Choräle, kunstvoll verschachtelt er Einzelstimmen, versetzt sie durch Hoquetus-Techniken in Erregung, gestaltet unerwartete Verläufe. Ein wenig plakativ wirken jedoch die gegen Ende immer virulenter absteigenden Quinten und auch das ziemlich deutliche Zitat aus Haydns Abschiedssymphonie scheint verzichtbar.

    Christophe Pertons Regie setzt auf eine klare, sehr reduzierte Personenführung und fließende Raumkonturen. Beständig ändern sich die Spielorte: ein Wohnzimmer, Wandteile mit Fenstern, hell erleuchtete Türen, Zimmerfluchten verschieben sich in- und gegeneinander. So entsteht (auch Dank der formidablen Bühnenmaschinerie des Grand Theatre) ein ungestörter, suggestiver 90-Minuten Trip durch Erinnerungslandschaften, Assoziationswelten und ätherische Klangräume.

    Die äußerst fein gestalteten, ob ihrer Länge und Höhe gelegentlich atem(be)raubenden Gesangslinien erweckten vor allem die Sopranistin Valérie Mc Carthy und sowie die Altistin Emma Curtis zum Leben. Bestens präpariert war das Orchestre de la Suisse Romande unter Daniel Kawka und der auf der Hinterbühne platzierte Chor des Grand Theatre (Einstudierung: Ching-Lien Wu).