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Fünf Jahre nach Beslan

Über 330 Menschen, mehr als die Hälfte von ihnen Kinder, starben, als russische Spezialeinheiten am 1. September 2004 die Geiselnahme in der Schule von Beslan, Nordossetien, gewaltsam beendeten. Die Angehörigen der Opfer fühlen sich von ihrem Staat im Stich gelassen.

Von Robert Baag | 03.09.2009
    Um 11:05 Uhr deutscher Zeit, also 13:05 Uhr Ortszeit wird es heute auf den Tag und auf die Stunde genau fünf Jahre her sein, dass russische Spezialeinheiten die Turnhalle der Schule Nummer 1 in Beslan, einer kleinen Stadt in der Teilrepublik Nordossetien, zu erstürmen versuchen.

    Ohne Rücksicht auf die mehr als 1100 Menschen, die dort seit bald 52 Stunden von etwa drei Dutzend überwiegend tschetschenischen Terroristen als Geiseln gehalten werden, gehen die Soldaten unter massivem Waffeneinsatz vor - mit Schützenpanzern und Flammenwerfern. Ein Blutbad unter Schülern, Eltern und Lehrern ist die Folge. Über 330 Menschen sterben, verbrennen, werden erschossen. Mehr als die Hälfte von ihnen sind Kinder, die noch zwei Tage zuvor, am 1. September 2004, wie traditionell in Russland üblich, den ersten Schultag nach den Ferien hatten feiern wollen.

    Viele der Kinder und Jugendlichen aber auch der Erwachsenen, die an Körper und Seele zum Teil schwer verletzt überlebt haben, fühlen sich heute von ihrem Staat im Stich gelassen.

    "Mit uns will sich niemand aus Moskau treffen und mit uns sprechen", " klagt Ella Kesaeva von der Selbsthilfe-Organisation "Golos Beslana", der "Stimme von Beslan". Die eigene Verwaltung in Nordossetien sei nicht imstande zu helfen. Dabei hatte es vor fünf Jahren noch ganz anders aus dem Kreml geklungen:

    " "Auf unserer Erde hat sich eine schreckliche Tragödie ereignet", " so der damalige Präsident Russlands Vladimir Putin voll Anteilnahme. - All die vergangenen Tage habe jeder tief mitgelitten angesichts der Ereignisse in Beslan, wo man es nicht nur mit gewöhnlichen Mördern zu tun gehabt habe. Sie hätten ihre Waffen gegen Kinder erhoben. Heute wende er, Putin, sich vor allem an die Eltern, sichere ihnen seine Unterstützung und sein Mitgefühl zu. Sie hätten schließlich das Teuerste im Leben verloren - ihre Kinder.

    " "In den vergangenen Jahren ist vonseiten des Staates eine Menge getan worden, damit diese Tragödie vergessen wird", " klagt dagegen jetzt Ella Kesaeva, deren damals zwölfjährige Tochter bis heute unter depressionsbedingten Krankheiten leidet. - " "Im Fernsehen wird kaum mehr darüber berichtet", " sagt Kesaeva. " "Zum ersten Jahrestag gab es noch ein Treffen mit Präsident Putin. Da hat er versprochen, alles aufklären zu lassen. Ein Resultat aber hat es nicht gegeben. Zum zweiten und dritten Jahrestag gab es noch nicht mal mehr eine Schweigeminute ... Trotzdem: Die Menschen erinnern sich an Beslan. In den vergangenen zwei Wochen haben wir sehr viele Anrufe bekommen, voller Beileid und Mitgefühl, wir haben die moralische Unterstützung gespürt. Nein, man hat uns nicht vergessen."

    Schlimm ist für Kesaeva und alle anderen Opfer-Angehörigen:

    "Dieser Terroranschlag ist nie aufgeklärt sondern vielmehr vertuscht worden. Dabei hat es massenhaft Verbrechen seitens staatlich Verantwortlicher gegeben. Fest steht: Zum Zeitpunkt des Sturmangriffs - am 3. September, um 13:05 Uhr - lebten alle unsere Kinder noch - mit Ausnahme eines zuckerkranken Mädchens, das bereits wegen Insulinmangels gestorben war."

    Bis heute ist unklar, wie viele Terroristen den Schulkomplex in Beslan besetzt hatten, wie viele von ihnen in dem Chaos nach dem missglückten, offenbar vom Inlandsgeheimdienst durchgesetzten Sturmangriff entkommen konnten, ob korrupte Beamte beiseite geblickt hatten, als das Terroristenkommando die Massengeiselnahme noch vorbereite.

    Putin-Nachfolger Dmitri Medwedew hatte es vorgestern vorgezogen, gut gelaunt und fernsehwirksam Moskauer Erstklässler an ihrem ersten Schultag zu besuchen. - Auf eine lange zuvor von 254 Betroffenen unterschriebe Bitte an ihn, aus Anlass des fünften Jahrestages eine Delegation aus Beslan zu empfangen, habe es nicht einmal eine Antwort gegeben, berichtet Ella Kesaeva bitter. "Unsere Probleme nach dem Terroranschlag damals", " sagt sie, " "werden nicht weniger, sondern nehmen zu. Sie müssen gelöst werden!"