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Fünf Nahaufnahmen des Ersten Weltkriegs

Der Erste Weltkrieg scheint umfassend erforscht, die auslösenden Faktoren, die Akteure an den Schalthebeln der Macht, der Kriegsverlauf, alles scheint weitgehend bekannt. Trotzdem haben sich Verena Moritz und Hannes Leidinger daran gemacht, eine andere Geschichte dieses ersten großen Krieges des 20. Jahrhunderts zu schreiben.

Ein Beitrag von Rolf Wiggershaus. Redakteurin am Mikrofon: Karin Beindorff. |
    Unbekannter französischer Fußsoldat im Jahr 1918 in der Somme Region.
    Unbekannter französischer Fußsoldat im Jahr 1918 in der Somme Region. (AP-Archiv)
    Ihnen geht es um Personen und Ereignisse, die bisher wenig oder gar nicht beachtet wurden, die aber aus ihrer Sicht dennoch den Gang der Geschichte wesentlich beeinflusst haben. Ein Beispiel für diese Geschichte unbekannter Helden ist der Unteroffizier Timofej Kirpitschnikow, der sich im Februar 1917 in Petersburg weigerte, auf hungernde Demonstranten zu schießen. Das Buch der beiden Historiker heißt deshalb "Die Nacht des Kirpitschnikow". Rolf Wiggershaus stellt es vor.

    Beitrag Rolf Wiggershaus

    Eine andere Geschichte des Ersten Weltkrieges ist es nicht, was das Buch des Wiener Historiker-Paars Verena Moritz und Hannes Leidinger bietet. Wohl aber nähern die beiden sich auf originelle und faszinierende, auf "andere" Art einem Thema, das seit langem Gegenstand einer laufend anschwellenden geschichtswissenschaftlichen Forschungsliteratur ist.

    Im Hauptteil ihres Buches haben Moritz und Leidinger fünf Momente bzw. Ereignisse herausgegriffen, die in jeder einigermaßen ausführlichen Geschichte des Ersten Weltkrieges vorkommen: die "Julikrise" 1914 im Gefolge der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgerpaars; das so genannte "Wunder an der Marne" im September 1914; die Verbrüderung von Soldaten und streikender Bevölkerung zu Beginn der Russischen Februarrevolution in Petersburg 1917; die Erhebung des tschechoslowakischen Korps im Frühjahr 1918, der Anfangsphase des "Bürgerkriegs" in Russland; schließlich der Aufstand der Matrosen in Kiel als Fanal der deutschen Novemberrevolution. Es handelt sich also um eine geradezu betont konventionelle Auswahl von Momenten oder Situationen, die als historische Wendepunkte gelten. Gerade an ihnen soll sich bewähren, worin Moritz und Leidinger das Besondere ihres Beitrags zu einer Geschichte des Ersten Weltkriegs und überhaupt der von ihnen praktizierten Art von Geschichtsschreibung sehen.

    "Wir haben insgesamt fünf 'Nahaufnahmen’, Momente bzw. Ereignisse ausgewählt, um zu zeigen, wie und warum ein kleiner, unbedeutender Zwischenfall eine historische Wende herbeiführen kann. […] Die scheinbare Klarheit lexikalischer Fakten ist im besten Falle eine Orientierungshilfe, zuweilen und bei näherer Betrachtung hingegen nicht mehr als eine sogar Verwirrung stiftende Verknappung oder aber eine inhaltsleere Hülle. […] Wir wollten uns auf das Terrain einer lebendigen und offenen Geschichte wagen, wo beispielsweise auch […] verhinderte Möglichkeiten […] eine Rolle spielen dürfen; auf ein Feld, wo […] unterschiedliche Interpretationen einen Platz haben und Widersprüche im Sinne eines Erkenntnisgewinns verstanden werden."

    Das Glanzstück einer solchen Reise in die Tiefe der Zeit zum "großen Augenblick" ist das mittlere und längste Kapitel des Buches: "’Es ist genug Blut geflossen’. Die Nacht des Kirpitschnikow und die Russische Revolution". Als wesentlicher Faktor beim Ausbruch der russischen Februarrevolution gilt die Weigerung des Ausbildungskommandos des Reservebataillons des Wolhynischen Leibgarderegiments, gegen die Aufständischen in der damaligen Hauptstadt Petersburg auszurücken. Welche erstaunlichen und unwahrscheinlichen Dinge passieren mussten, damit das im Nachhinein so konsequent und unaufhaltsam Scheinende geschah, beleuchtet das Kapitel über Kirpitschnikow auf vorbildliche Weise. Knappe Vergegenwärtigung des Kontextes, nüchterne Rekonstruktion und spannende Erzählung gehen Hand in Hand.

    Als am 26. Februar 1917, einem Sonntag, die kurz vor der Abreise an die Front stehenden "Wolhynier" von ihrem Kommandanten den Befehl erhielten, die Demonstranten auf dem Petersburger Snamenskij-Platz auseinander zu treiben, agierten die Soldaten zaghaft, ja höflich. Vom Kommandanten mit Erschießen wegen Gehorsamsverweigerung bedroht, schossen sie, der Empfehlung des Feldwebels Kirpitschnikow folgend, in die Luft. Ein wütender Fähnrich entriss einem Soldaten das Gewehr, schoss und verwundete eine Frau. Kirpitschnikow sah den betrunkenen Fähnrich mindestens sieben Personen töten und weitere verletzen und dann in einem Hotel verschwinden, in das die Offiziere sich zwischendurch zur "Stärkung" zurückzogen. Der Einsatz der "Wolhynier" hatte ca. 50 Tote zur Folge, und obwohl der Kommandant mit der Leistung der Soldaten nicht restlos zufrieden war, bedankte er sich bei Kirpitschnikow für die Führung der Männer.

    Die Nacht des Kirpitschnikow – das war die Nacht, die auf diesen Sonntag folgte, der in den Augen des Kommandanten eine Art Training gewesen war, um seine Männer auf die Front vorzubereiten. Für Kirpitschnikow und weitere Soldaten dagegen wurde es eine schlaflose Nacht.

    "Als Kirpitschnikow den Vorschlag machte, einen abermaligen Einsatz gegen die Demonstranten zu boykottieren, fand er in Michail Markow sofort einen Verbündeten. Dieser holte auf Kirpitschnikows Verlangen die übrigen Zugführer herbei, um eine konzertierte Aktion zu beraten. Die Männer versammelten sich um die Schlafstätte Kirpitschnikows, und einer stand Schmiere, um das Herannahen eines Offiziers rechtzeitig melden zu können. 'Ich’, sagte Kirpitschnikow, 'werde morgen nicht da hinausgehen’. Die eigenen Väter und Mütter, Brüder und Schwestern töten, das könne er nicht tun. Es war, erzählte Kirpitschnikow später, als hätte er mit diesen Worten eine schwere Last von den Männern genommen. Auch sie waren sich einig: 'Morgen werden wir nicht schießen!’"

    Die am folgenden Tag verabredungsgemäß und erfolgreich handelnden "Wolhynier" riskierten ihr Leben, um nicht länger zur Tötung Streikender eingesetzt zu werden, sahen sich dann aber in die Tötung von "Kameraden" verstrickt – erst des Kommandanten, später von Soldaten, die den Meuterern hartnäckig Widerstand leisteten. Die Geschichte des vorübergehenden "Helden der Februarrevolution" ist eine Geschichte im Zwielicht und endet trostlos irgendwann im Jahr 1918 mit der Erschießung des politisch heimatlos Gewordenen.

    Neben dem titelgebenden Glanzstück haben die anderen "Nahaufnahmen" es nicht leicht. Doch auch sie bestechen durch differenzierte Pointiertheit. Die erste Nahaufnahme über "Alexander Hoyos und die Entfesselung des Ersten Weltkriegs" beispielsweise ist ein Lehrstück über die Bereitschaft von Entscheidungsträgern und so genannten Eliten, sich auf Kosten ihrer Völker zum Vabanquespiel verleiten zu lassen. Dabei geht es diesmal um die unterschätzte Rolle Österreich-Ungarns in der "Julikrise". Am 4. Juli war der einflussreiche k.u.k.-Diplomat Alexander Graf Hoyos nach Berlin gereist, um einen "Blankoscheck" des deutschen Bündnispartners für das weitere Vorgehen des um den endgültigen Verlust seines Großmachtstatus fürchtenden Habsburgerreichs auf dem Balkan zu erhalten. Licht auf die zwielichtige Atmosphäre von Leichtsinn und Verantwortungsscheu werfen Sätze der "Nahaufnahme" wie die über das Telegramm Hoyos nach Wien:

    "Berlin also überließ Wien die Entscheidung über die weiteren Schritte, wenn auch nicht zu überhören war, dass man eine aggressive Linie bevorzugte. Die deutschen Staatsmänner aber glaubten nicht so recht an ein energisches Vorgehen der k.u.k.Monarchie. Hoyos jedenfalls kehrte 'in gehobener Stimmung’ nach Wien zurück."

    Die einrahmenden Abschnitte mit den pompösen Obertiteln "Panorama" und "Totale" allerdings sind enttäuschend. Sie bieten weniger eine Annäherung aus der Vogelperspektive und eine Nachbetrachtung, als vielmehr eine ausufernde Aneinanderreihung der Meinungen von Historiker-Kollegen zur Historiographie und zum Thema Erster Weltkrieg. Das sollte aber keineswegs zum Verzicht auf die Lektüre des Buches führen, sondern nur zur Beherzigung des vielleicht ahnungsvollen Rats von Autorin und Autor an Eilige: Sofort zur Mitte des Buches vorstoßen.

    Rolf Wiggershaus besprach: Verena Moritz/Hannes Leidinger: "Die Nacht des Kirpitschnikow. Eine andere Geschichte des Ersten Weltkriegs". Es erscheint bei
    Deuticke/Zsolnay am 3. März 2006, hat 320 Seiten für 24,90 Euro.