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Für Deutschland gestorben

Seitdem zahlreiche Bundeswehrsoldaten beim Kriegseinsatz in Afghanistan ihr Leben ließen, wird über ein angemessenes Totengedenken debattiert. Schon nach den napoelonischen Kriegen wurde um militärische Ehrenmale gerungen. Seitdem hat sich der politische Totenkult in Deutschland stark gewandelt. Doch es gibt auch Kontinuitäten bis heute.

Von Clemens Tangerding | 18.11.2012
    Das Ehrenmal der Bundeswehr liegt nur einen Spaziergang entfernt vom preußischen Nationaldenkmal für die Befreiungskriege. Beide Stätten dienen dem Gedenken gestorbener Soldaten. Das eine wurde 2009 enthüllt, das andere 1821. Die beiden Orte könnten auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein. Es beginnt bereits bei der Formensprache. Das Bundeswehr-Ehrenmal des Architekten Andreas Meck besteht aus einem schlichten Quader. Er liegt ebenerdig an der Außenseite des Bundesverteidigungsministeriums in Berlin-Tiergarten und ist über eine kleine Seitenstraße zu erreichen. Der Besucher entdeckt das 32 Meter lange Rechteck erst, wenn er direkt davor steht. Der Boden und die Säulen sind aus Beton. Das Gebäude ist von einem Bronzekleid umfasst. Die metallene Hülle ist durchlöchert von kleinen Kreisen und Halbkreisen, die an die Erkennungsmarken der Soldaten erinnern sollen.

    Das Nationaldenkmal von Karl Friedrich Schinkel dagegen ist schon von Weitem sichtbar. Es steht auf einer Anhöhe. Ist der Geschichtsbegeisterte diese emporgestiegen, befindet er sich auf einer Aussichtsplattform neben einem Monument, das dem Turm einer gotischen Kathedrale nachempfunden ist. Auf seiner Spitze in 19 Metern Höhe sitzt ein Eisernes Kreuz, das dem Berg, der daran entlang führenden Straße und dem ganzen Stadtteil seinen Namen gegeben hat: Kreuzberg. Der Park, der das Denkmal umgibt, heißt Viktoriapark. Die Hildebrandstraße indessen, in der das Ehrenmal der Bundeswehr liegt, ist nach einem Schokoladenfabrikanten benannt.

    Oben auf dem Kreuzberg stehen die Namen und Daten der bedeutendsten Schlachten der Koalition gegen Napoleon. An den glatten Wänden des Bundeswehr Ehrenmals sind die Orte nicht eingraviert, an denen Soldaten von Luftwaffe, Marine und Heer ums Leben gekommen sind. Würde sich das Bundesverteidigungsministerium dafür entschieden haben, hätte es in großer Zahl deutsche Bundeswehrstandorte aufzählen müssen. Denn von den 3100 seit Gründung der Bundeswehr 1955 getöteten Soldaten und zivilen Mitarbeitern sind die allermeisten bei Unfällen im eigenen Land ums Leben gekommen.

    Statt der Orte nennt die Gedenkstätte die Namen der Verstorbenen. In einem Raum der Stille, der in dem Quader liegt, leuchten sie nacheinander an einer dunklen Wand auf. Wie die Männer hießen, die in den Befreiungskriegen starben, erfährt der Besucher des Kreuzbergs nicht. Offenbar liegen nicht nur zweihundert Jahre zwischen den beiden Stätten des Gefallenengedenkens, sondern auch Welten der Erinnerungskultur. Die Siegesfeier scheint sich im Laufe der Zeit zu einer Besinnung auf die Verstorbenen gewandelt zu haben.

    Doch lassen sich schnell auch Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Monumenten feststellen. Die Auffälligste ist wohl, dass die Inhaber der politischen und militärischen Macht einen zentralen Ort des zentralen Gedenkens im Staat, damals Preußen, heute die Bundesrepublik schufen. Dieser Raum ist nicht identisch mit der Stelle, an der der Soldat ums Leben gekommen ist, und auch nicht mit seinem Heimatort. Der zentrale Gedenkort liegt im Machtraum des Staates.

    Offensichtlich ist auch, dass die Entscheidungsträger die Denkmäler nicht für diejenigen errichten ließen, an die sie erinnern, nicht also für die toten Soldaten. Der Historiker Reinhart Koselleck formuliert dieses Phänomen auf folgende Weise:

    "Sicher ist, dass der Sinn des Sterbens für [...], wie er auf Denkmälern festgehalten wird, von den Überlebenden gestiftet wird, und nicht von den Toten. Denn die Sinnleistung, die die Verstorbenen ihrem Sterben abgewonnen haben mögen, entzieht sich unserer Erfahrung."

    Wie weit also hat sich das Bundeswehr-Ehrenmal tatsächlich vom Nationaldenkmal für die Befreiungskriege entfernt? Welche Elemente aus der Geschichte des Soldatengedenkens hat es behalten, welche macht es sich zu Eigen? Ein Blick in die Zeit zwischen dem beginnenden 19. Jahrhundert und der Berliner Republik scheint sich zu lohnen.

    Bereits vor der Einweihung des Nationaldenkmals für die Befreiungskriege im Jahr 1821 bündelte Friedrich Wilhelm III. das Gedenken an die gefallenen Soldaten, indem er einen Gedenktag ausrief. Der König ordnete im April 1816 an, dass am 4. Juli Totenfeiern in jeder evangelischen Kirche Preußens abgehalten werden sollten. Einen Totengedenktag sollte es fortan in jedem Jahr geben. Für die wenigen katholischen Pfarreien erließ er eine eigene Ordnung.

    Das Datum war bewusst gewählt. Am 4. Juli 1815, also exakt ein Jahr zuvor, kapitulierte die französische Regierung vor der Koalition, deren Truppen vor Paris lagen. Der Monarch verknüpfte auf diese Weise das Gedenken an die gestorbenen Soldaten mit dem Sieg über Napoleon, der allen Zeitgenossen noch klar vor Augen stand. Allein die Wahl des Tages verlieh der Totenfeier bereits eine Deutung.

    Die Gemeindepfarrer hatten, so legte Friedrich Wilhelm es fest, in dem Gedenkgottesdienst des 4. Juli 1816 über zwei Bibelstellen zu predigen. Die Verordnung ließ es damit jedoch nicht auf sich beruhen, sondern bestimmte auch, in welcher Weise der Prediger die Geschichten aus der Bibel auslegen sollte. Dem Kabinett des preußischen Königs war an einer genauen Kontrolle darüber gelegen, wie das Totengedenken abzulaufen hatte.

    Dazu gehörte, die Trauer der Familienmitglieder über die gestorbenen Söhne, Väter und Brüder von vorneherein einzudämmen. Kummer sollte gar nicht erst aufkommen, die Angehörigen sollten Stolz empfinden. Wofür aber waren die Soldaten der deutschen Staaten in den Kriegen der Jahre 1792 bis 1815 gefallen?

    Die Monarchen konnten nach 1815 nicht behaupten, die Landeskinder seien für den Sieg gestorben. Diese Deutung wäre die einfachste gewesen und hätte an große historische und mythologische Vorbilder anknüpfen können. Der Verlust des Soldatenlebens wäre im Sieg des Staates aufgegangen. Dieses Bild hätte auch der ungebildetste Untertan verstanden. Doch die historische Wirklichkeit versperrte sich einer solchen Deutung. Die Soldaten der Rheinbundstaaten hatten bis 1813 noch auf Seiten Frankreichs gekämpft. Im Russlandfeldzug von 1812 starben allein 30.000 bayerische Männer unter der Befehlsgewalt Napoleons.

    Die Monarchen versuchten folglich, eine Formel zu finden, welche die einstige Bindung an Napoleon oder die Abhängigkeit von ihm nicht thematisierte. Zum 20. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig wurde in München ein Denkmal am Karolinenplatz in der heutigen Maxvorstadt eingeweiht. Es sollte die Erinnerung an jene 30.000 bayerische Soldaten wachhalten, die im Russlandfeldzug
    gestorben waren. Der Obelisk von Leo von Klenze, so hieß es, wurde aus dem Erz französischer Kanonen gegossen.

    Die Behauptung, die Soldaten seien für das Vaterland oder für König und Vaterland gestorben, taucht nach 1815 auf Inschriften und in politischen Gedenkreden sehr häufig auf. Mit der Fokussierung auf das Land oder die Herrscherfigur ließ sich der Patriotismus als Sinn behaupten, ohne den Kampf auf Seiten des Feindes und ohne Kriegsniederlagen rechtfertigen zu müssen. Nur sehr wenige Machthaber
    gingen dabei allerdings so weit wie der bayerische König Ludwig I., der in der Inschrift auf dem Münchener Obelisken den Russlandfeldzug als Teil der Befreiungskriege definierte und damit offensichtliche historische Tatsachen leugnete.

    Die Widmung überspielte auch, dass viele junge Männer während der Kriege versucht hatten, dem Militärdienst zu entgehen. Dies taten sie auf legale Weise, indem sie eine der Ausnahmeregelungen für sich zu reklamieren versuchten, welche die Gesetze zur Heeresergänzung vorsahen. Dies wurde aber auch mit ungesetzlichen Strategien versucht, indem sie Geburtsjahre fälschten, die eigene Unabkömmlichkeit im elterlichen Handwerksbetrieb vortäuschten oder schwere Krankheiten angaben. Einige versuchten dem Waffendienst mittels Desertion zu entgehen.

    Der bayerische König ging gegen die Deserteure auf mannigfache Art vor. Ein Mittel bestand darin, die Namen, Berufe und Wohnorte der Betroffenen im Regierungsblatt zu veröffentlichen und sie damit sozial zu ächten, ein anderes darin, das Vermögen des Geflohenen einzubehalten und damit auch die Existenz der Familie aufs Spiel zu setzen.

    Die Historikerin Ute Planert hat jüngst das Verhalten der Bevölkerung in den süddeutschen Staaten während der Koalitionskriege untersucht und ihrer Studie den sprechenden Titel Der Mythos vom Befreiungskrieg gegeben. Erst im Lauf des 19. Jahrhunderts, so zeigt Planert, dichteten die Staatseliten der damaligen Bevölkerung einen freiwilligen oder zumindest willfährigen Einsatz fürs Vaterland an. De facto existierte die Bereitschaft, für König oder Vaterland in den Tod zu gehen, in weit geringerem Maße als zur Zeit der Restauration von den gekrönten Häuptern behauptet.

    Die Formel der Hingabe an König und Vaterland versuchte jedoch weniger, die Geschichte zu deuten als vielmehr die Gegenwart. Die Landkarte des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation hatte sich erheblich verändert. Wenn die Monarchen den Tod der Soldaten als patriotischen Akt ausdeuteten, dann deshalb, um die Bevölkerung der hinzugewonnenen Gebiete an sich zu
    binden. Dies hatte nicht zuletzt ganz praktische Gründe. Die Staaten des Deutschen Bundes waren in Folge der Koalitionskriege hoch verschuldet. Die Könige verlangten von ihren Untertanen, hohe Steuern zu zahlen, um die geschlagenen Schlachten zu finanzieren.

    Der Historiker Edgar Wolfrum hat mit dem Begriff der Deutungseliten einen eigenen Begriff für diejenigen Personen gefunden, die über ausreichend Macht verfügen, um ihre Deutung der Geschichte im öffentlichen Raum kundtun zu können. Deutungseliten sind Könige und Fürsten, gewählte wie selbst ernannte Regierende, ihre politischen und militärischen Berater, ferner ihre Künstler und Architekten. Bis ins zweite Drittel des 19. Jahrhunderts ging die Initiative für das Gedenken an getötete Soldaten fast immer von diesen Deutungseliten aus. Dies änderte sich mit den folgenden Kämpfen, an denen mehrere deutsche Staaten beteiligt waren.

    Bereits während der Kriege von 1864 und 1866 bildeten sich Denkmalkomitees zur Errichtung von Kriegerdenkmälern. Die Gremien setzten sich zusammen aus Mitgliedern von Veteranenvereinigungen, Gesangsvereinen und Schützengilden, aus Lokalpolitikern, Geistlichen und örtlichen Honoratioren. Die typische Denkmalform dieser Zeit war die Säule mit einer Viktoria, einer Nike oder einem eisernen Kreuz als Spitze.

    Der vielfache Bau von Kriegerdenkmälern führte dazu, dass der Krieg und das Gefallenengedenken sich nun flächendeckend über die deutschen Staaten erstreckten. Gedenken fand nun an den Orten statt, an denen Menschen um ihre getöteten Söhne, Brüder und Väter trauerten. Erstmals fanden sich nun auch die Namen einfacher Soldaten auf den Denkmälern wieder.

    Die Denkmäler ähnelten sich sehr. Mit den neuen Stätten, die der Toten der Einigungskriege gedachten, entfernte sich das Gedenken von den Kirchen. Schließlich standen sie nun an neutralen Orten und waren nicht in der Kirche untergebracht wie noch die Gedenktafeln unter Friedrich Wilhelm III. Die räumliche Abgeschlossenheit, die Bildsprache und die Architektur luden diese Plätze dennoch mit einer Atmosphäre der Außerweltlichkeit auf. Die Denkmäler dieser Zeit waren keine religiösen, aber dennoch sakrale Orte. Dem Tod der Soldaten, die hier mit Namen genannt wurden, sollte etwas Heiliges innewohnen.

    Bemerkenswert ist ein Denkmal, das von einem Komitee in Edenkoben in der bayerischen Kurpfalz zur Ausführung gebracht wurde. Es zeigt einen nackten Reiter auf einem Pferd vor einer Halle. Er überbringt dem Reich die Nachricht vom Sieg gegen Frankreich und schaut daher gen Westen. Als das Friedens- und Siegesdenkmal 1899 eingeweiht wurde, hielt der Vorsitzende des Denkmalkomitees vor einer Menge von 14.000 Kriegervereinsmitgliedern eine Rede. Ferdinand Kuby war Landgerichtsrat und sagte:

    "Dieser in Kanonenerz gekleidete Friedensheros kündet der deutschen Welt: 'Es ist wieder Friede worden, freut Euch dessen, frohlocket!' Er erinnert aber auch daran, es ist Frieden worden, aber nur nach schwerem Kampf, und er mahnt laut und ernst die jetzigen und künftigen Generationen: ‚Verdient, was Euch errungen worden, seid einig und seid treu und Ihr werdet stark sein und unüberwindlich.‘"

    Friede konnte in diesem Denken nur durch Kampf und Tod erlangt werden. Erst 1969 wurde die Stätte in einer lokalen Festschrift nur noch als Friedensdenkmal bezeichnet. Der Autor führte damit, ob bewusst oder unbewusst, den Friedensbegriff der sechziger Jahre ein. Nach dem neuen Verständnis dieses Begriffs stellten Krieg und Frieden einen nicht zu vereinbarenden Widerspruch dar.

    Die Regierenden der beiden verfeindeten Staaten Deutschland und Frankreich ließen nach 1871 an den Schauplätzen der Schlachten einige gemeinsame Gefallenen-Denkmäler für französische und deutsche Soldaten errichten. Diese Tradition setzte sich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs fort. 1916 ließ Wilhelm II. bei St. Quentin ein Ehrenmal bauen. Zwei Jünglinge in Bronze standen für die zwei
    feindlichen Lager. Zu der Gedenkstätte gehörte ein Friedhof, auf dem die Leichen von Soldaten beider Staaten beerdigt waren.

    Viele Entscheidungsträger in Berlin und Paris betrachteten den Krieg als den großen Erneuerer, als reinigendes Gewitter, als Gegenmodell zur Politik mit ihren endlosen Debatten. Den Krieger verstanden viele Regierende als den Fahnenträger der Erneuerung. Ihn galt es zu ehren,ob er nun französischen oder deutschen Blutes war.

    Neben dem Frieden als Folge des Krieges hielt ein anderer Begriff Einzug in die Sprache des Gedenkens. In den Gedenkreden und auf Denkmälern war nun von der Einheit des deutschen Vaterlands zu hören und zu lesen. Endlich seien nach 1871, so die Auffassung vieler Monarchen, die vorher zersplitterten Territorien zu einer Einheit verschmolzen. Der preußische König und in abgeschwächter Weise auch andere Monarchen verstanden den Soldatentod nun als Preis, der für die Einheit zu bezahlen war.

    Gegen diese Deutung regte sich mancherorts Widerspruch. Das aufkommende Vereinswesen des 19. Jahrhunderts hatte nicht nur Denkmalkomitees hervorgebracht, sondern auch politische Organisationen. Soweit es das Sozialistengesetz erlaubte, konnten sich die Gegner der Soldatenehrungen öffentlich zu Wort melden. 1895 erschien in der sozialdemokratischen Zeitung Volkswacht, die in Bielefeld erschien, ein Artikel, der den Zusammenhang zwischen Tod und Einheit
    anzweifelte:

    "Hätten wir nicht viel mehr Ursache zu trauern, ob der Ströme Blutes, die damals um [...] was? vergossen worden sind. 'Die Einheit und Freiheit Deutschlands', antworten uns die Politiker und Geschichtsschreiber der herrschenden Klasse. Wir haben für die arbeitende Klasse nichts von großer Freiheit bemerkt."

    Die Versuche, den Sinn des Todes der Soldaten öffentlich in Frage zu stellen, blieben bis zum Ende des Ersten Weltkrieges auf bestimmte politische Milieus begrenzt. Dafür war nicht nur die Repression gegen Andersdenkende im Kaiserreich verantwortlich, sondern auch die Tatsache, dass die Einigungskriege allesamt nur von kurzer Dauer gewesen und siegreich verlaufen waren.

    Erst im Verlauf des Ersten Weltkrieges zweifelten große Teile der Bevölkerung den Sinn des Todes an den Fronten im Westen und Osten an. Die Zahl der gestorbenen Soldaten stieg ins Unermessliche. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte erhielt nun nach Möglichkeit jeder Soldat ein eigenes Grab auf einem Soldatenfriedhof.

    Diese Form des Gefallenengedenkens stammte aus Nordamerika. Während des amerikanischen Bürgerkriegs legten die Vertreter der Nordstaaten gesetzlich fest, dass jedem gestorbenen Soldat ein eigenes Grab gebühre. Dies war im Ersten Weltkrieg selbstverständlich nur bei den Toten möglich, deren Namen bekannt waren. Nach der Sommerschlacht an der Westfront 1916 konnten 72.000 gefallene Soldaten identifiziert werden, 86.000 blieben vermisst. Dies konnte bedeuten, dass die Leichen nicht identifiziert werden konnten.

    Darauf reagierten die Regierenden mit zwei Strategien. Einerseits wandelten sie die Schlachtfelder in ihrer Gänze in Gedenkstätten um. Dies geschah zum Beispiel mit der "Höhe 60" bei Ypern, wo 8000 Soldaten gestorben waren. Andererseits ließen die Entscheidungsträger wie in Vimy und Navarin Monumente errichten, auf welche die Namen aller nicht identifizierbaren Soldaten graviert wurden und die daher nicht begraben werden konnten.

    Bis zum Ersten Weltkrieg blieben die kriegführenden Könige und Fürsten auch nach einem Krieg noch an der Macht und konnten ihre Deutung von Geschichte in der Öffentlichkeit relativ ungehindert verbreiten. Dies war nach 1918 anders. Nach der Einsetzung einer Reichsregierung und eines Reichstags für die Republik von Weimar bekämpften sich nicht nur die verschiedenen politischen Lager, sondern auch unterschiedliche Geschichtsdeutungen.

    Die politischen Eliten konnten sich weder auf einen gemeinsamen Nationalfeiertag noch auf einen nationalen Gedenktag für die Toten des Ersten Weltkriegs einigen. Der sozialdemokratische Journalist Friedrich Stampfer prägte das Wort vom "Bürgerkrieg der Erinnerungen". Die Anhänger des untergegangenen Kaiserreiches veranstalteten an den Jahrestagen der Reichsgründung von 1871 Gedenkfeiern. Dem standen die Verfechter der jungen Republik gegenüber, die sich für die Jahrestage der Ausrufung der Republik am 9. November 1918 und der Unterzeichnung der Weimarer Verfassung am 11. August 1919 als Nationalfeiertage einsetzten. Keine der beiden Parteien konnte sich durchsetzen, so dass die Republik bis zu ihrem Ende 1933 ohne Nationalfeiertag blieb.

    Die Beteiligung der Bevölkerung an den lokalen Gedenkfeiern von Republikanern und Monarchisten war ohnehin gering. Sie pflegten ihr Andenken an die Verstorbenen am Totensonntag. In den Reden und Zeitungskommentaren an diesen Tagen instrumentalisierten Journalisten und Lokalpolitiker häufig die Toten des Ersten Weltkriegs für die Legitimation genau ihrer parteipolitischen Überzeugungen. Gleichzeitig riefen sie nicht selten zur Überwindung parteipolitischer Grenzen auf, wie zum Beispiel in einem Kommentar der Vossischen Zeitung zum Totensonntag 1919:

    "Aber eines muss auch am heutigen Tage das deutsche Volk als seine Pflicht empfinden: in all seinem Schmerz und all seinem Kummer darf es sich die Zukunft nicht selber verbauen durch untätiges Sichergeben in alles, was da kommt. Die Arbeit, die der Sozialismus predigt, muss das Losungswort des ganzen Volkes werden, zugleich aber das Vertrauen auf eine bessere Zukunft - und sei es auch nur
    die unserer Enkel! Das sind wir nicht nur uns selbst, das sind wir vor allem den Gefallenen schuldig, deren wir heute gedenken."


    1926 führte die Reichsregierung auf Vorschlag des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge einen eigenen Tag für das Gedenken an die Getöteten des Ersten Weltkriegs ein, den Volkstrauertag. Er bestand nur wenige Jahre als solcher fort. Bereits ein Jahr nach der Machtübernahme ersetzten die Nationalsozialisten den Volkstrauertag durch den Heldengedenktag. Die Abschaffung war Ausdruck einer Geschichtsdeutung, die keine Trauer duldete. Aus diesem Grund ließen die lokalen
    Entscheidungsträger auch Trauersymbole wie die Pietà oder Soldaten mit geneigtem Kopf von Gedenkstätten entfernen. In einer Begründung zur Schaffung des Heldengedenktages schrieb das nationalsozialistische Winterhilfswerk 1934:

    "Wir beklagen jetzt nicht mehr mit Tränen die unzähligen Opfer eines sinnlosen Mordens, sondern wir erkennen, dass unzählige dieses Opfer freiwillig gebracht haben und dass aus dieser Saat viele Jahre später herrliche Früchte aufgegangen sind."

    Am Heldengedenktag sollte fortan nicht nur der Toten des Ersten Weltkriegs gedacht werden, sondern auch der Getöteten der nationalsozialistischen Bewegung. Eine besondere Ehrung erfuhren dabei die Nationalsozialisten, die beim Putschversuch vom 9. November 1923 ums Leben gekommen waren. Nach dem Ausbruch des Krieges änderten die verantwortlichen Politiker die Ausrichtung des Heldengedenktages. Der Tag sollte nun dem Gedächtnis der toten Soldaten beider Kriege gewidmet sein.

    Für die sogenannten Opfer der Bewegung reservierten die Verantwortlichen einen eigenen Tag, den 9. November. Er wurde zum vierten Nationalfeiertag erkoren. Damit versuchten die Entscheidungsträger des NS-Regimes auch, den Gedenktag der Republikaner zu entwerten. Die Anhänger der Weimarer Republik feierten den 9. November bislang als den Tag, an dem 1918 Philipp Scheidemann und Karl Liebknecht die Republik ausgerufen hatten.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte sich das Gedenken an die toten Soldaten um. Angesichts der sechs Millionen ermordeten Juden schien es den deutschen Politikern unter alliierter Bewachung nicht mehr möglich, die Toten des Zweiten Weltkriegs wie die des Ersten Weltkriegs zu ehren. Bislang waren die deutschen Soldaten für das Vaterland oder seine Monarchen, für Frieden und Einheit gestorben, also für positiv besetzte Begriffe. Diese Legitimation war angesichts des allgemein
    als verbrecherisch betrachteten Nationalsozialismus versperrt. Damit wandelten sich auch die bisherigen Sinnstiftungs-Strategien, wie der Historiker Wolfgang Kruse gezeigt hat:

    "An die Stelle des mit Sinn besetzten aktiven ‚Opfers für …’ trat nun ein umgekehrter Opferkult, in dem die Toten als passive ‚Opfer von …’ Krieg und Gewalt erinnert wurden. Diese Abkehr fiel in der Regel aber deutlich schwächer aus als die vorherige Sinnstiftung, weil sie zumeist die Frage nach den Ursachen und Zusammenhängen des massenhaften gewaltsamen Todes ausblendete und sich stattdessen in eine verallgemeinernde Unverbindlichkeit flüchtete."

    Das Opfer wurde zum Sammelbegriff für alle Toten. Auf Denkmälern und bei Ansprachen am Volkstrauertag gedachten die Politiker nun der "Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft". Mit dieser Formel entgingen die Entscheidungsträger nicht nur der Erklärungsnot, wer warum und durch wessen Hand getötet worden war. Sie bezog auch die Kritik am politischen System der DDR und den anderen Staaten des Ostblocks ein. Deren Regierungen wurden von bundesrepublikanischen Politikern als
    Gewaltherrschaften bezeichnet.

    Selbst Heinrich Böll machte in seiner Rede mit dem Titel "Heldengedenktag", die er am Volkstrauertag 1957 hielt, noch keinen Unterschied zwischen Wehrmachtssoldaten und den Häftlingen von Konzentrationslagern:

    "Millionen ermordet, Millionen als Soldaten, Millionen als Flüchtlinge auf den Landstraßen gestorben. Unschuldige wurden als Opfer für den Tod Unschuldiger genommen. Die große Zahl der Opfer verdeckt den Einzelnen, ihr Name bleibt, der sich dem Haß oder der Verehrung anbietet."

    Gegen den allumfassenden Opferbegriff regte sich in den 1970er- und 80er-Jahren in mehreren Schüben Protest. Konservative Politiker zogen die Kritik linker politischer Gruppen sowie linker und liberaler Intellektueller auf sich, die gegen die Nivellierung der Schuldfrage im offiziellen Gedenken ankämpften und unterschiedliche Formen der Darstellung für Opfer und Täter forderten.
    Es waren oft symbolbehaftete Ereignisse, welche die Debatten befeuerten. Heftige Kritik, etwa von Jürgen Habermas, ernteten der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl und der US amerikanische Präsident Ronald Reagan, als sie am 5. Mai 1985 nacheinander Kränze in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen und auf dem Soldatenfriedhof von Bitburg niederlegten. Auf dem Friedhof in der Eifel liegen neben Wehrmachtsangehörigen auch Mitglieder der Waffen-SS.

    Heftige Proteste erntete auch der Beschluss Helmut Kohls, die Neue Wache in Berlin als, so wörtlich, "Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft" zu nutzen. Der Vorwurf, unter anderem vom Zentralrat der Juden, lautete wie im Fall Bitburgs, es dürfe kein gemeinsames Gedenken für die deutschen Soldaten der beiden Weltkriege und die ermordeten Juden geben. Kohl sagte daher zu, für die jüdischen Opfer der Shoah ein eigenes Mahnmal errichten zu lassen.

    Lässt man die Phasen des Gedenkens zwischen dem Ende der Koalitionskriege und dem Bau des Bundeswehr-Ehrenmals Revue passieren, fallen Kontinuitäten auf, die sich vom Kreuzberg über Edenkoben und Tannenberg, über Bitburg bis in die Hildebrandstraße in Berlin-Tiergarten erstrecken. Die Gedenkstätten sind ausnahmslos Ausdruck des Bedürfnisses, das Gedenken an den Tod der Soldaten zu sakralisieren, also zu etwas Heiligem zu stilisieren. In Form von Kreuzen, Säulen, Räumen der Stille oder Plastiken wird nicht der Tod, sondern der vorgebliche Sinn dieses Todes dargestellt.

    Der 21-jährige Oliver O. aus Waldhausen im Kreis Traunstein starb 2010 in Afghanistan, weil ihn ein Kamerad beim Waffenreinigen versehentlich erschoss. Indem es die Todesumstände verschweigt, verweigert das Ehrenmal diesem Tod von Oliver O. seine Konkretheit. Stattdessen soll der junge Mann aus Bayern für Freiheit, Recht und Frieden gefallen sein, für den Frieden allerdings, der keine Alternative zum Krieg darstellt, sondern der auf den Krieg folgt wie die Stille dem Sturm. Diese Strategie hat eine lange Tradition im offiziösen Gedenken.

    Die Sakralisierung schirmt die Gedenkorte auch gegen Widerspruch ab, denn wer würde in einem Raum der Stille oder vor einem Kreuz laut protestieren? Die Ent-Profanisierung beschützt den Tod der Soldaten besonders vor Ansprüchen der Überlebenden. Obwohl diese im Einsatz eine Gruppe bildeten, grenzen die Denkmäler die Toten von den Versehrten ab.

    Nur wer starb, wird in Inschriften und auf Tafeln geehrt, wer überlebte nicht. Zwar möchte Verteidigungsminister Thomas de Maizière einen Veteranengedenktag einführen, doch auf dem Ehrenmal der Bundeswehr werden die ehemaligen Einsatzkräfte nicht gewürdigt. Psychische Krankheiten, lebenslange körperliche Schäden, Schwierigkeiten bei der beruflichen Widereingliederung ließen sich mit der Sakralisierung des Gedenkens nicht in Einklang bringen.

    Auffällig ist auch, dass die Soldaten zwar als Söhne oder als Opfer, manchmal auch als Krieger benannt und dargestellt werden, nie aber als Tötende. Der Gefallene existiert als Begriff, es gibt aber keine Bezeichnung für den, der ihn zu Fall gebracht hat. Reinhart Koselleck meint dazu:

    "Gestorben wird alleine, zum Töten des Anderen gehören zwei. Die Fähigkeit des Menschen, seinesgleichen umzubringen, konstituiert vielleicht mehr noch menschliche Geschichte als seine Grundbestimmung, sterben zu müssen."

    Der Autor ist Historiker und freier Publizist. Er promovierte über die Zeit Napoleons.