Freitag, 19. April 2024

Archiv


"Für die Öffentlichkeit bin ich der milde freundliche Dummerjan"

Witz, Ironie und Sinn für die Skurrilitäten des Alltags sind eher seltene Gäste in der Literatur, und es ist um so beachtlicher, wenn sie dort sogar einmal nicht nur am Katzentisch Platz nehmen müssen. Dass es ausgerechnet Walter Kempowski sein würde, der für eine solche Ausnahme sorgt, hätten vor zwanzig Jahren wahrscheinlich wenige erwartet. Der gebürtige Rostocker, Jahrgang 1929, war als "Deutscher Chronist" vielmehr auf einem Feld tätig, das eher andere Beweggründe bietet, um die Augen feucht werden zu lassen, auch wenn in Kempowskis Romanen schon immer sein eigentümlich norddeutscher Humor mit am Werke war.

Von Uwe Pralle | 21.06.2006
    1990 erschien dann "Sirius", das erste von Kempowskis privaten Tagebüchern, das mit seinen Schnappschüssen das Jahr 1983 festhielt - und darin zeigte sich plötzlich ein ebenso leidenschaftlicher wie knochentrockener Alltagsbeobachter, der nicht davor zurückschreckte, auch sich selbst und seine Marotten mit dem nicht gerade weit verbreiteten Gestus der Selbstironie in den Blick zu nehmen.

    In der Zeitung las ich von einem Pianisten, der meint, in einem früheren Leben schon Pianist gewesen zu sein. Ihm komme es so vor, als habe er alles schon einmal gespielt. - Ich habe ähnliche Gefühle. Ich denke, ich sei der Typ auf dem 100-Mark-Schein gewesen.

    ... wie es in "Sirius" heißt, das gerade wiederaufgelegt ist, nachdem es lange vergriffen war. Aus dem vermeintlich nicht sonderlich aufregenden Leben eines Schriftstellers, der auf dem Lande zwischen Bremen und Hamburg lebt, allerdings oft auf Lesetouren unterwegs ist, drangen so nicht nur Nachrichten von den Lebens- und Arbeitsgewohnheiten, sondern auch Widerklänge des bundesdeutschen Alltags und Literaturbetriebs anno 1983.

    Nach dem zweiten Tagebuch "Alkor" sind jetzt Kempowskis Notizen aus dem Jahr 1990 erschienen. "Hamit", wie im Erzgebirge das Wort für "Heimat" lautet, heißt es sicherlich, weil es vor allem im Zeichen der Rückkehr in seine Geburtsstadt steht, die durch die Wende nach über dreißig Jahren für ihn plötzlich wieder möglich war.

    Rostock: Hotel "Warnow". Obwohl die Rostocker wissen, dass ich, der Tadellöser & Wolff-Mensch, heute hier im Hotel "Warnow" absteige: keinerlei Aufmerksamkeiten, nichts. Das ist Rückkehr".

    schrieb er enttäuscht, als er mit einem WDR-Filmteam in die Stadt kam. Fast wollüstig kultiviert Kempowski das Gefühl, überall der Außenseiter zu sein, ob nun bei der Rückkehr nach Rostock oder schon seit vielen Jahren im bundesdeutschen Literaturbetrieb. Die unermüdlichen Beschwörungen, als - mit seinen eigenen Worten - "liberales Schwein" von den linken Platzhirschen ständig an den Rand gedrängt zu werden, erzeugen allerdings auch die Gegenimpulse, durch die seine Beobachtungen oft so scharfsinnig und sardonisch sind. Köstlich allein schon die Schilderungen des Kleinkriegs zwischen ihm und den beiden linksgestrickten Damen vom WDR, die bei den Filmaufnahmen in Rostock das Sagen hatten, und wie so oft trifft sein Ressentiment auch hier ins Schwarze:

    "Er ist halt schwierig", sagen sie. Die ganze Situation ist schwierig. Alles was ich sage, befremdet sie. Ich bin das Okapi unter den Giraffen. Mit Jähzorn habe ich zu kämpfen, das ist wahr. Wie sie sich angezogen haben! Wie peinlich hier unter den ärmlichen Rostockern, das Pfauenhafte. Und wie sie reden. (...) Was das Leerkaufen der Zone angeht: Ich sah es wohl, dass sich die beiden Wohlstandsdamen mit Klassiker-Ausgaben in einem Antiquariat eindeckten: "Sagenhaft billig."

    Der böse Blick und Kempowskis ausgeprägter Hang, neben seinen Vorlieben und Neigungen auch Schwächen, Vorurteile und Abneigungen so genüsslich zu zeigen, dass man manchmal den Verdacht nicht los wird, letztlich gefalle es ihm, den Sonderling der deutschen Literatur zu spielen, machen diese Tagebücher zu einer völlig eigenständigen und reizvollen Parzelle auf seinem Terrain, das auf der einen Seite die Romane und Befragungsbücher, auf der anderen Seite die kollektiven Tagebücher des "Echolot" eingrenzen. Das Bild jedenfalls, das von ihm kursiert, bringen sie erheblich durcheinander, und es muss so etwas wie eine Lust an der Selbstkasteiung sein, die es ihn immer wieder heraufbeschwören lässt:

    Im Ganzen bin ich für die Öffentlichkeit der milde freundliche Dummerjan, ich bin "ihr" Kempowski, der ganz still und leise sich ein Oeuvre zusammengeschnorrt hat, aus viel Sand und kleinen Steinen.

    Allerdings unterscheidet diese Tagebücher des Jahres 1990 von den Vorgängern, sehr viel stärker im Bann der politischen Zeitereignisse zu stehen, also des deutschen Vereinigungsprozesses. Kempowskis alle emotionalen Facetten des Triumphes angesichts des schnellen Endes der DDR durcheilenden Reflexe mögen zwar Wasser auf den Mühlen derjenigen sein, die in ihm schon immer nur den durch acht Jahre Haft in Bautzen starrsinnigen DDR- und Linkenhasser sahen. Doch Tagebücher sind nun einmal Lagerstätten persönlicher Erfahrungen oder gar Wahrheiten, und wenn man sich Kempowskis Tagebuchkommentare in einem kollektiven Tagebuch zur deutschen Vereinigung vorstellt, dann wäre seine Stimme in dem großen Chor auch nur eine von vielen. Das sollte auch für Puristen korrekter politischer Äußerungen eigentlich auszuhalten sein. Im übrigen ist er auch am 3. Oktober seinem Hang zur Nörgelei völlig treu geblieben:

    Am nächsten Morgen fuhren Simone und ich in dem schönen BMW zur Wiedervereinigungs-"Veranstaltung" nach Weimar. Es ist natürlich klar, dass dieser Auftritt in Weimar nur eine Art Trostpflaster für mich in letzter Sekunde ist; die grandiosen Sendungen blieben denjenigen vorbehalten, die das, was es heute zu feiern gilt, jahrelang mit Meckereien zu verhindern gesucht hatten.

    Diese Tagebücher sind kauzig, anrührend, ärgerlich, erhellend und witzig, und vielleicht sind sie sogar - was bei einem leidenschaftlichen Tagebuchleser wie Kempowski nicht wundern würde - zuweilen auch heimliche Parodien anderer literarischer Tagebücher irgendwo zwischen Wilhelm Raabe, Franz Grillparzer, Thomas Mann und Ernst Jünger. Jedenfalls ist es ein Vergnügen, sie zu lesen, und selten geht man dabei leer aus. Kempowski hat oft eine ziemlich lockere Zunge, wenn es um die Werke von Schriftstellerkollegen geht, wie etwa sein aberwitziges Urteil, Wolfgang Koeppens Romane seien "unerträglich". Aber zu Heinrich Böll hat er etwas bemerkt, was um so triftiger wird, wenn man es auch auf das Verhältnis von seinen, Kempowskis, Tagebüchern zu den eigenen Romanen anwendet:

    Böll: im Krieg jeden Tag Briefe geschrieben! Sind alle noch vorhanden. Wann werden wir sie zu sehen kriegen? Am Ende wird man sie zu seinem Hauptwerk zählen. Die Romane wird man vergessen.

    Walter Kempowski: Sirius. Tagebuch 1983
    (BTB-Taschenbuch)
    Hamit. Tagebuch 1990
    (Albrecht Knaus Verlag)