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Für die Stellung der Juden im Staat verheerend

Die Schriftenreihe "Dokumente, Texte, Materialien" des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin hat es sich zur Aufgabe gemacht, den deutsch-jüdischen Dialog in Wissenschaft und Öffentlichkeit zu fördern - ein neuer Band in dieser Schriftenreihe lenkt den Blick auf den alltäglichen Antisemitismus im Deutschland vor 1933 - vor der Machtergreifung also. Autorin ist die Berliner Wissenschaftlerin Inbal Steinitz - und unser Rezensent ist Günther B. Ginzel.

    Der vorzustellende Band beschreibt vordergründig ein Kapitel deutscher Rechtsgeschichte. Doch darüber hinaus bietet er einen ungewohnten Einblick in den Kampf um die Gleichberechtigung der Juden in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Für die hier beschriebene Epoche zwischen Kaiserreich und Drittem Reich, vor allem aber zum besseren Verständnis einer deutsch-jüdischen Identität, muss man an die lange Geschichte von Juden in Deutschland erinnern, die insbesondere im Rheinland bis in die Römerzeit zurückreicht. Folglich fühlten sich Juden mit ihren oft Jahrhunderte alten Stammbäumen in Deutschland zu Hause. Viele typisch jüdische Namen zeichnen förmlich eine Landkarte der Verbundenheit: Bamberger, Dresdner, Breslauer, Rheinländer, Berliner, Hamburger usw. Trotzdem war Deutschland nie frei von Judenfeindschaft. Doch im 19. Jahrhundert sorgte ein aufgeklärter Absolutismus für Optimismus, dass die weit reichende gesellschaftliche und rechtliche Diskriminierung der Juden ein Ende haben würde. Hier setzt die Arbeit einer jungen Wissenschaftlerin, Inbal Steinitz aus Berlin, ein. Im Rahmen ihrer rechtshistorischen Dissertation untersuchte sie den "Kampf jüdischer Rechtsanwälte gegen den Antisemitismus", so der Haupttitel ihres Buches. Am Anfang steht also die Hoffnung, dass Berufsverbote aufgehoben, die Tradition einer über tausend Jahre alten Praxis antijüdischer Predigten in den Kirchen beendet und überhaupt Schluss sei mit den Demütigungen, die noch den jungen Moses Mendelssohn zwangen, Berlin durch das Tor für das Vieh zu betreten. In Preußen beginnt 1812 die Geschichte der Emanzipation, der rechtlichen Gleichstellung der jüdischen Bürger, die sich im 1871 gegründeten Deutschen Reich fortsetzt. Zu Beginn ihres Buches fragt sich die Autorin: Was hat ein halbes Jahrhundert der Bemühungen bewirkt haben, ist es gelungen den Antisemitismus einzudämmen? Ihr Fazit:

    "Der Antisemitismus hatte sich am Ende des 19. Jahrhunderts im Kaiserreich zu einem kulturellen Code entwickelt. Bekannte man sich zum Antisemitismus, war dies Zeichen kultureller Identität und Ausdruck kultureller Zugehörigkeit sowie einer Akzeptanz bestimmter sozialer, politischer und moralischer Normen."

    In ihrer jetzt veröffentlichten Dissertation konzentriert sich die Autorin auf den Abwehrkampf, auf die, so der Untertitel "strafrechtliche Rechtsschutzarbeit des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens". Dieser größte aller jüdischen Verbände bekannte sich gleichermaßen zum Judentum wie zum Deutschtum. Er vertrat einen deutschen Patriotismus, der auf der Hochachtung vor dem Rechtsstaat basierte. Denn nur das Recht gewähre auch einer Minderheit Schutz. Immer vorausgesetzt, die Justiz ist bereit, das Recht eines jeden Bürgers ohne Ansehen der Person und der Herkunft zu gewähren. Doch die Justiz, das belegt diese Arbeit, war eher unwillig, ihre Aufgabe zu erfüllen. Bereits 1894, ein Jahr nach der Gründung des CV, lautete die ernüchternde Feststellung der Vereinsjuristen:

    "Von 40 eingereichten Anzeigen gegen antisemitische Hetzer in der Presse wurde von den Staatsanwaltschaften aber in keinem Fall eine Anklage erhoben."

    Die Anwälte des Centralvereins standen vor dem Problem, dass ...

    " ... nämlich die Weigerung von Staatsanwälten, bei antisemitischen Vorfällen öffentliche Klage zu erheben ... "

    ... und stattdessen ...

    " ... die beleidigten Juden auf den Privatklageweg zu verweisen."

    Die Autorin fasst ihre Untersuchungen in diesem Punkt zusammen - es reicht ihr ein Satz:

    "Im Kaiserreich war dies der Regelfall."

    In der Praxis wurde zweierlei Recht angewandt: Die Autorin bringt eindringliche Belege:

    "Eine Jüdin hat eine Christin des Meineids beschuldigt."

    Offensichtlich zu Unrecht.

    "Diese geht daraufhin zur Staatsanwaltschaft. Die erhebt wegen Beleidigung Anklage und die Jüdin wird zu einer Geldstrafe verurteilt."

    Dagegen ist nichts einzuwenden. Die ungleiche Behandlung von Klägern wird erst im Vergleich deutlich:

    "Ein Rabbiner geht mit einem Bekannten über die Straße. Da ruft ihm eine Christin nach: >Die wollen wohl wieder Christen schlachten<."

    Eine Beschuldigung, die keineswegs als Witz abgetan werden kann, denn um die Jahrhundertwende ist es wegen der von Antisemiten geschürten "Ritualmordbeschuldigung" in zahlreichen Orten des Reiches zu Unruhen und lokalen Pogromen gekommen. Der Vorwurf also eine Volksverhetzung.

    "Der Rabbiner erstattet Anzeige. Doch die Staatsanwaltschaft lehnt Ermittlungen ebenso ab, wie eine Anklageerhebung. Begründung: Kein öffentliches Interesse."

    Die Folgen dieser Praxis, das macht dieser Band deutlich, sind nicht nur für den Rechtsfrieden, sondern für die Stellung der Juden im Staat verheerend.

    "Die staatsanwaltschaftliche Praxis ermöglichte eine Legalisierung des Antisemitismus."

    Mit einer Fülle von Details, von Auszügen aus Verfahren und Urteilen, breitet die Autorin die Geschichte des Kampfes jüdischer Verbandsjuristen gegen antisemitisches Unrecht aus. Erfreulich, dass sie nicht in eine juristische Fachsprache verfällt, so dass auch der juristisch nicht vorbelastete Leser ihr gut folgen kann. Zugleich ist das Buch eine wertvolle Einführung in den jüdischen Abwehrkampf, wie er weitgehend in der Öffentlichkeit unbekannt sein dürfte. So wird hier eindrucksvoll belegt, wie wenig sich Juden angesichts des heraufziehenden Dritten Reiches ihrem Schicksal ergeben haben, sondern im Gegenteil, mit den Mitteln des Rechtsstaates für ihre Rechte und Freiheiten - als Deutsche und als Juden - kämpften. Dass der Rechtsstaat sich allerdings den Nationalsozialisten ohne Gegenwehr ausliefern würde, damit hatten die Mitglieder des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens nicht rechnen können.

    Günter B. Ginzel war das zum Schluss über Inbal Steinitz: "Der Kampf jüdischer Anwälte gegen den Antisemitismus. Die strafrechtliche Rechtsschutzabteilung des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens". Erschienen im Berliner Metropol-Verlag, 215 Seiten zum Preis von 19.00 Euro.