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Für einen Job um die halbe Welt

Die Hotline eines Internet-Reisebüros. Eine Kundin hat ihre Flugbestätigung nicht bekommen, weil die E-Mail-Adresse falsch war. Marie Blomquist bringt die Sache in Ordnung. Das Besondere an Marie Blomquist ist nicht, was sie tut, sondern wo sie es tut. Die Anrufer aus Göteborg oder Stockholm haben keine Ahnung, dass Marie Blomquist nicht in Schweden arbeitet, sondern einige Tausend Kilometer entfernt in Neu Delhi. Marie Blomquist ist nicht die einzige Europäerin bei der indischen Firma tecnovate. Von rund 1000 Mitarbeitern stammen 100 Kollegen aus Europa. Unter anderem aus Finnland, der Schweiz, Frankreich und Deutschland.

Von Christian Brüser | 12.08.2005
    " Wir sind hier das deutsche Team, wir arbeiten alle für das Büro e-bookers in Bonn. Wir machen hier die Buchungen fertig. Flugzeitenänderungen, rufen die Kunden an, Mietwagenbuchungen. Jetzt sind wir zwei deutsche Kollegen, zwei neue angekommen, fangen am Mittwoch an zu arbeiten."

    Annika Teller, 27 Jahre alt, kommt aus Bremen und arbeitet bereits seit anderthalb Jahren in Delhi. Bereut hat sie die Entscheidung, nach Indien zu kommen bisher nicht.

    " Nein, überhaupt nicht."

    Beim Surfen im Internet erfährt sie von der Stelle in Delhi.

    " Und da ich gerade mit Studium der Tourismuswirtschaft fertig war, hatte ich gedacht, eine Auslandserfahrung ist bestimmt interessant, hat spontan geklappt."

    Marie Blomquist hat bereits in Schweden vier Jahre in einem Reisebüro gearbeitet. Bei einem Urlaub in Goa entdeckt sie ihre Liebe zu Indien und entschließt sich, in Indien Arbeit zu suchen.

    " Ich wollte Indien sehen und dachte, es sei eine gute Idee, zu erleben, wie es in einem indischen Büro abläuft."

    Mit ausführlichem Infomaterial, mit Videos über Delhi und den neuen Arbeitsplatz sorgt die Firma tecnovate dafür, dass sich die neuen Mitarbeiter von Anfang an realistische Vorstellungen machen. Das Unternehmen bezahlt den Flug nach Indien und mietet für die ausländischen Arbeitskräfte Häuser in guten Wohngegenden Delhis. Annika Teller ist mit sieben Kolleginnen und Kollegen untergebracht.

    " Und jeder hat halt sein eigenes Zimmer mit Badezimmer, das einzige was wir uns teilen, ist die Küche, alles ausgestattet, Stromausfall, kein Wasser, das gehört halt zu Indien dazu."

    Außer der Unterkunft inklusive aller Nebenkosten und einem Zimmermädchen, das putzt und morgens die Betten macht, stellt das Unternehmen auch verbilligte Mahlzeiten und den kostenlosen Transport zur Arbeit. Diese Zusatzleistungen bewirken, dass sich die jungen Europäer trotz des auf den ersten Blick mageren Gehalts eine ganze Menge leisten können. Das Einstiegsgehalt beträgt für die indischen und ausländischen Mitarbeiter 20.000 Rupien pro Monat, das entspricht etwa 400 Euro.

    " Ich habe etwas mehr, Stelle des Teamleiters, 600 Euro im Monat. Das ist absolut gar nichts, aber weil man fast nichts bezahlen muss, reines Taschengeld, kommt man ganz gut über die Runden. Was ich hier mit meinen 600 Euro sparen konnte, hätte ich in Deutschland nicht machen können."

    Die freiwillige Sozialversicherung in Deutschland für 120 Euro im Monat hat Annika Teller dabei schon abgezogen. Auch die skandinavischen Kolleginnen sind begeistert von den günstigen Preisen. Wenn die Schwedin Silvia Sethi mit Delhis moderner U-Bahn fahren will, kostet sie das nur 20 Cent, ein Kinobesuch schlägt mit einem Euro zu Buche und in einem einfachen Restaurant kann sie für zwei Euro duftendes Lammcurry mit frisch gebackenen Fladenbroten genießen. Mit 500 Euro zählt sie hier zur Mittelschicht.

    " Wir haben hier ein wirklich schönes Gehalt. Wenn man Ein- und Ausgaben umrechnet, haben wir in Indien mehr als doppelt so viel als zuhause in Europa, wo das Leben sehr teuer ist. Das Gehalt ist mehr als genug."

    Um Europäer zu motivieren, in Indien zu arbeiten, mussten Unternehmen früher tief in die Tasche greifen. Zum normalen Gehalt kamen die Auslandszulage, Unterkunft, Dienstwagen mit Chauffeur und Freiflüge in die Heimat. Diese Vergünstigungen beschränken sich heute auf wenige Führungskräfte und Experten mit großer Erfahrung. Audrey D'Souza leitet die deutsch-indische Handelskammer in Bangalore. Seit den 60er Jahren betreut sie hier deutsche Unternehmen und Arbeitskräfte. Sie stellt große Veränderungen fest.

    " Im Gegensatz zu früher kommen die Deutschen heute gerne nach Indien, um hier zu arbeiten. Früher wollten diejenigen, die wirklich gut im Geschäft waren, nicht in ein Land wie Indien kommen, weil sie den Kontakt zu den neuesten Entwicklungen verloren hätten. Das hat sich vollkommen geändert, und daher sind die jungen Leute heute gerne bereit zu kommen."

    Junge, motivierte und flexible europäische Gastarbeiter, die in Indien für rund 500 Euro im Monat arbeiten, sind ein neues Phänomen. An ihnen wird deutlich, welche Attraktivität Indien als Wirtschafts- und Arbeitsstandort in den letzten Jahren gewonnen hat. Etwa 30.000 Ausländer aus den Westen arbeiten derzeit in Indien. Tecnovate-Geschäftsführer Praschánt Sáchni schwärmt von ihnen.

    " Wir hatten das Ziel, unsere Leistungen in mehreren Sprachen anzubieten. Ich hätte leicht Inder engagieren können, die deutsch oder französisch sprechen, aber mir ging es auch um den kulturellen Aspekt. Ein Inder kennt vielleicht nicht den Unterschied zwischen dem Karneval und dem Oktoberfest, für einen Deutschen ist die Sache klar. Aus unserer Sicht, war die Idee, Arbeitskräfte aus Europa anzustellen, sehr erfolgreich."

    Konkurrenz erwächst Indien in Osteuropa. Warum sollten Unternehmen aus Frankreich, Deutschland oder Österreich Büro-Dienstleistungen nach Indien auslagern, wo sie doch in Osteuropa, sozusagen vor der Haustüre, günstige Arbeitskräfte finden, die mit der Sprache und der Kultur der Kunden vertraut sind?

    " Letztlich kommt es immer auf das Verhältnis von Qualität und Preis an. Wenn in Indien nun hervorragende Leute aus Deutschland arbeiten, schlagen die deutschen Unternehmen zwei Fliegen mit einer Klappe. Sie bekommen die Leute, die sie selbst gerne in ihrem Unternehmen anstellen würden zu niedrigeren Kosten als in Osteuropa. Warum sollten sie da nicht zugreifen?"

    Praschánt Sáchni kann sich durchaus vorstellen, in Zukunft noch deutlich mehr Europäer einzustellen. Ist es schwierig, genügend geeignetes Personal zu finden?

    " Es ist überhaupt kein Problem! Unsere Partner in Europa sind sehr überrascht, wie gut das Angebot, Indien zu erleben, angenommen wird."

    Die jungen Europäer sind überzeugt, dass sich eine intensive Auslandserfahrung gut im Lebenslauf macht. 18 Monate Indien werden künftige Personalchefs in Annika Tellers Lebenslauf lesen können.

    " Anderthalb Jahre reichen, ich möcht' nach hause."

    Nach hause zieht es auch immer mehr Inder, die in Europa oder in den USA gearbeitet und oft auch Karriere gemacht haben. Experten sprechen von "reverse migration" - von einer umgekehrten Migration. Dieser Begriff umfasst einerseits die wachsende Zahl europäischer und amerikanischer Gastarbeiter in Indien, andererseits auch die Inder, die verstärkt in ihre Heimat zurückkehren. Für diesen Trend sind zwei Hauptfaktoren verantwortlich: Seit dem 11. September haben die USA die Einwanderungsbedingungen verschärft, was die Migration behindert. Zum anderen saugt der Boom der indischen Wirtschaft Arbeitskräfte an.

    " Die jungen Leute haben heute mindestens drei Jobs zur Auswahl. Auf jemand, der ein bisschen Talent und Berufserfahrung hat, sind die Unternehmen wirklich scharf!"

    Die Unternehmerin Lathika Pai ist in Bangalore aufgewachsen und hat hier ihr Ingenieurstudium absolviert. Zwölf Jahre arbeitet sie anschließend in den USA im Telekom-Sektor. 2002 kehrt sie nach Indien zurück. Ausschlaggebend waren private Gründe. Sie wollte, dass ihre beiden Kinder in der indischen Kultur und in engem Kontakt zu den Großeltern aufwachsen.

    " That was the best decision we've ever made, bringing them back to live with family."

    Nicht nur für die Kinder war es eine gute Entscheidung nach Indien zurückzukehren, auch die eigene Berufskarriere machte eine steile Kurve nach oben.

    Stolz führt Lathika Pai durch die Räume ihres Call Centers. Jeden Montag fangen 25-40 neue Mitarbeiter bei ihr an. In den letzten 12 Wochen hat sie 250 neue Arbeitskräfte eingestellt. Bei ihrer Rückkehr nach Indien hat sie den globalen Bedarf an günstigen Dienstleistungen erkannt. Mittels Risikokapitalgebern bringt sie vier Millionen Dollar auf, kauft ihre eigene Firma. Hier können die Kunden amerikanischer Softwareunternehmen anrufen, wenn sie Probleme mit Computerprogrammen haben. Lathika Pai übernimmt 113 Angestellte, heute arbeiten hier über 500, die Büros sind für 1.500 geplant.

    " Das Wachstum war phänomenal! Und darin liegt auch die größte Gefahr. Wir wachsen viel zu schnell. Im letzten Jahr lag das Wachstum bei 400 Prozent. Die Herausforderung liegt nun darin, bei der Qualität keine Kompromisse zu machen, sonst sind wir in fünf Jahren nicht mehr da."

    Die 38-Jährige hat ihr ganzes Berufsleben in den USA verbracht. Obwohl sie heute in ihrer Heimatstadt arbeitet, musste sie sich erst an die unterschiedliche Kultur im indischen Berufsleben gewöhnen.

    " Inder wollen es einem immer recht machen, einem Gast ebenso wie einem Geschäftspartner. Das führt dazu, dass sie mehr zusagen, als sie erfüllen können. Vielleicht sagt man ihnen, dass ein bestimmtes Programm in drei Monaten fertig sein wird, obwohl es letztlich neun Monate dauert. Ich habe meinen Leuten eingetrichtert, realistisch zu sein. Lieber weniger versprechen und mehr liefern. Doch es hat zwölf Monate gedauert, bis sie verstanden haben, dass es okay ist, einmal "nein" zu sagen. Das ist ein großer Unterschied zu den USA, wo man es nicht als Inkompetenz wertet, wenn jemand sagt "das geht nicht" oder auf die Risiken hinweist. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die ganze Call-Center-Industrie extrem jung ist. Mitarbeiter, die gerade vier, fünf Jahre mit ihrer Ausbildung fertig sind, also in einem Alter von 26 oder 27 Jahren, müssen Verantwortung für 50 bis 100 Mitarbeiter übernehmen. Das ist eine große Belastung für diese jungen Menschen."

    Die indische Regierung erleichtert den Unternehmen, die für das Ausland Software entwickeln oder Büro-Dienstleistungen durchführen, das Wachstum. Bis zum Jahr 2010 ist dieser Wirtschaftszweig von der Steuer befreit, und Kapitalgüter dürfen zollfrei eingeführt werden. Nach Angaben des Branchenverbands existierten 2003 in diesem Bereich etwa 370.000 Arbeitsplätze. Ende 2006 sollen es doppelt so viele sein. Setzt sich der bisherige Trend fort, erwartet man bis 2009 fast eine Million neuer Arbeitsplätze. Rosige Zeiten für die Absolventen der Colleges und Universitäten.

    " Vor ein paar Jahren hätten sie nur mit Mühe einen Job gefunden und dann vielleicht 2000 Rupien verdient. Nach 20 Jahren als Bankangestellter wären sie bei 10.000 Rupien angelangt. Bei uns beträgt schon das Einstiegsgehalt mindestens 10.000 Rupien, mit den leistungsbezogenen Zuschlägen kommen sie auf 15.000 Rupien. Die Einkommensmöglichkeiten haben sich im Vergleich zu jenen ihrer Eltern radikal verändert."

    IT-Unternehmen wie Oracle, SAP oder Cisco Systems verlagern mehr und mehr Entwicklungsprojekte nach Indien. Auch die internationalen Pharmakonzerne haben Blut geleckt. In ihren indischen Forschungszentren können sie für das Geld, das in Europa ein Mitarbeiter kostet, vier bis sechs anstellen. Der Versuchung niedriger Löhne konnte auch die Nachrichtenagentur Reuters nicht widerstehen und wird in der neuen Zweigstelle in Bangalore bald 1.500 Mitarbeiter beschäftigen - zehn Prozent des gesamten Konzerns. Für Indien, so der Chef der Personalagentur "head hunters india", Kris Lakschmikanth, sprechen drei Gründe: Das Land verfügt über einen großen Pool gut ausgebildeter Hochschulabsolventen, man achtet die Patentrechte, und es gibt ein langsames, aber einigermaßen zuverlässiges Rechtssystem. Der Flaschenhals des derzeitigen Wachstums liegt beim geeigneten Personal.

    " Alle meine Kunden suchen verzweifelt nach Personal. "Wenn ich nur 100 Mann kriegen könnte" sagen sie "die Aufträge hätte ich schon!" Es ist ein Boom hier, das kann sich jemand in Österreich oder Deutschland, wo jeden Tag Unternehmen zusperren müssen, überhaupt nicht vorstellen."

    In den Bereichen Mode, Gesundheit oder Biotechnologie suchen indische Unternehmen ausländische Mitarbeiter, die spezifisches Know-how aus Europa oder den USA mitbringen. Der Headhunter Kris Laksmikanth hat kürzlich zehn Tage die USA und Europa bereist, um IT-Projektentwickler für indische Unternehmen anzuwerben.

    " Mitarbeitern dieser Ebene zahlt man in Indien und den USA vergleichbare Gehälter, doch die Lebensqualität ist in Indien viel besser. Ich habe diesmal Mitarbeiter gesucht, die rund 150.000 Dollar im Jahr verdienen. Wenn sie in den USA 200.000 Dollar verdienen, können sie sich weder einen Koch, noch einen Chauffeur, noch eine Hausangestellte leisten - aber in Indien ist das kein Problem. Man kann hier leben wie ein Maharadscha. Wer möchte da wieder heimgehen?"

    Antje Heiermann will nicht so schnell wieder heimgehen. Die 27-Jährige hat in Bochum Anglistik und Wirtschaftswissenschaft studiert. Nach ihrem Abschluss schickt sie ein Jahr lang Bewerbung um Bewerbung an die verschiedensten Unternehmen.

    " Da die Anzahl der Absagen zu deprimierend war, habe ich mich dann entschlossen, mich im Ausland zu bewerben. Eigentlich wollte ich mir dauerhaft in Deutschland eine Stelle suchen, das war schon aus der Not geboren."

    Schließlich erfährt sie von einer Stelle bei Bosch in Bangalore. Bosch betreibt hier neben Software-Entwicklung auch sein größtes Übersetzungsbüro weltweit. Produktanleitungen werden hier ins Deutsche, Französische, Japanische und Englische übersetzt. Antje Heiermann ist die erste Deutsche im Team. Der anfängliche Kulturschock bleibt Antje Heiermann trotz Vorbereitung nicht erspart. Doch die indischen Mitarbeiter machen ihr das Eingewöhnen leicht.

    " Der Empfang war supernett. Von meinen bisherigen Erfahrungen kann ich sagen, dass ich noch nirgends so nett empfangen worden bin. Die boten an, mir die Stadt zu zeigen, wollten zeigen, wo man deutsches Brot kaufen kann. Es war wirklich sehr nett und sehr rührend gewesen, der erste Tag auch vor allen Dingen."

    Bosch wollte Antje Heiermann für ein Jahr verpflichten, doch sie war vorsichtig und sagte zunächst nur für sechs Monate zu. Jetzt ist sie sich sicher. Sie will mindestens ein Jahr bleiben.

    Noch einmal zurück in das Call Center von tecnovate und zu den Mitarbeiterinnen aus Deutschland, Schweden und Norwegen. Würden sie ihre Freunde ermutigen, in Indien zu arbeiten?

    " Yes, definitely."

    Wer daran denkt in Indien zu arbeiten, sollte es auf alle Fälle tun.