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"Für jedes seiner Bücher wurde er im Grunde angefeindet"

Wegen seiner Unruhen bekommt Kirgistan zurzeit viel Aufmerksamkeit in den Medien weltweit. Aber was ist in kultureller Hinsicht von dem zentralasiatischen Land bekannt? Ein literarisches Aushängeschild ist der Schriftsteller Tschingis Aitmatow, der im Jahr 2008 starb. Lucien Leitess, Leiter des Züricher Unions-Verlags, war sein Verleger.

Lucien Leitess im Gespräch mit Karin Fischer |
    Karin Fischer: Was die Kulturgeschichte betrifft, fällt einem zu Kirgisistan oder Kirgisien, das jetzt wieder Kirgistan heißen soll, gerade noch die Seidenstraße ein. Ansonsten nomadisches Leben, weite Steppen, nothing to write home about, wie der Backpacker sagen würde. Ein Name aber steht monolithisch ja einzigartig für das zeitgenössische, auch das zivilisierte Kirgisien: der von Tschingis Aitmatow, 2008 verstorbener kirgisischer Dichter und Schriftsteller, dessen Werk in 170 Sprachen übersetzt und in 60 Millionen Exemplaren verlegt wurde. Lucien Leitess, Gründer und Leiter des Züricher Unions-Verlags, war sein Verleger. Herr Leitess, man kann ja wirklich sagen, dass Aitmatow seinem Land den Ort auf der kulturellen Landkarte erschrieben hat. Was für ein Kirgistan ist das, von dem Aitmatow erzählt?

    Lucien Leitess: Wenn man sich durch die Werke von Tschingis Aitmatow liest, dann erlebt man im Grunde alle Schichten, die dieses kleine, aber in der Tiefe sehr, sehr reiche Land durchlebt hat. Er ist geboren in den 20er-Jahren, in der sowjetischen Zeit noch, er hat aber alles noch sozusagen mit der Muttermilch oder in den Geschichten seiner Großmutter aufgesogen, was an oraler Tradition, an Sagen, an Heldenmythen kursierte. Das war die Kultur, die in Kirgistan wie in den meisten dieser Nomaden- und Steppenvölker, die lebendigste war. Er hat die moderne Literatur Kirgistans eigentlich begründet, im Grunde wie ein riesiger Baum in einer Steppe hat er dieses Land eben zum Schauplatz und in die Weltliteratur eingefügt. Im Grunde ein Glück, ein solches Land, einen solchen Autor zu finden, das passiert nur alle paar hundert Jahre.

    Fischer: Sie haben die Sippen und Stämme, die reiche mündliche Überlieferung erwähnt, in der dieses eher analphabetische Volk gelebt hat. Die Kirgisen haben aber natürlich auch das Mantra vom neuen Sowjetmenschen zu überstehen gehabt und vor 20 Jahren das Ende dieser Großmacht miterlebt. Vor diesem historischen Hintergrund: Kann man eine kulturelle Entwicklung des Landes beschreiben?

    Leitess: Es war sehr zwiespältig. Tschingis Aitmatow war ja im Grunde auch ein Kind dieser doch immensen kulturellen Fortschritte und Entwicklungen, die auch unter der sowjetischen Zeit geschehen sind – zusammen mit der Unterdrückung, auch mit der Liquidierung der sogenannten Volksfeinde. Sein eigener Vater – er kommt ja aus einer Familie, die politisch seit '38 geächtet war. Er hat aber einfach diese ganze Geschichte immer wieder gestaltet, das war sein tiefstes Motiv, und im Grunde hat er dann überhaupt in die sowjetischen Literatur hat er eben diese traditionellen Stoffe, diese Mythen eingeführt. Er wurde dafür auch angefeindet, für jedes seiner Bücher wurde er im Grunde angefeindet, einfach als eine Art Menschheitsvision und Menschheitstraum und Stoffe von ganz hoher Symbolkraft auch für den Fortschritt. Und wenn wir uns jetzt zum Beispiel diese Szenen, wenn wir sehen, was jetzt in Kirgistan passiert, man denkt sofort an seinen letzten Roman, "Der Schneeleopard", der im Grunde ein ganzes Panorama all der Kräfte und Verzweiflungen, die in diesem Land herrschen, malt. Also auf der einen Seite eine Bevölkerung, die immer mehr in Armut oder im Rückschritt auch versinkt durch diesen neuen Kapitalismus und die neue Herrschaft, die begonnen hat, die eigentlich sehr viel Hoffnungen geweckt hat zuerst. In diesem Roman treten auf die Mullahs, die immer mehr religiöse Einflüsse einführen wollen in Schulen und in der Gesellschaft, es gibt diejenigen, die unter die Räder kommen. Dann gibt es immer wieder solche, die dann in den Terrorismus oder in den militanten Islamismus abgleiten, und Geschäftemacher, die die letzten Ressourcen dieses Landes ausbeuten wollen. Dieses letzte Buch, "Der Schneeleopard", war im Grunde sein ganz großes, zorniges Manifest gegen die Gefahren, die gedroht haben und die dieses Land nun wirklich auch in den Griff genommen haben.

    Fischer: Wenn Sie, Herr Leitess, heute auf Bishkek gucken, ist das ein zerrissenes Land, was sich da präsentiert in diesen Protesten, oder ist es ein Land auf der Suche nach seiner Herkunft, nach seinen Wurzeln?

    Leitess: Was wir heute sehen, ist im Grunde das, was die Befürchtungen von Aitmatow immer waren. Natürlich ist dieses Land zerrissen, natürlich ist dieses Land auf der Suche wie alle die Länder in dieser Region, die einst sogar, muss man sagen, davon profitierten, dass sie eben Teil eines Weltreiches waren und auch eines Landes, das kulturell sie entwickelt hat, nämlich die alte Sowjetunion. Und es ist, die Tragik ist zu sehen, dass im Augenblick, wo dieser große Schirm wegfällt und jedes Land im Grunde sein Schicksal theoretisch in die eigenen Hände nehmen könnte, dass dann all die Widersprüche, die noch immer da waren, dass die ausbrechen und dass es immer wieder Versuche gibt, nun das Steuer zu drehen und wieder einen gesicherten, ruhigen, auch demokratischen Weg zu finden. Aitmatow hätte da vielleicht das eine oder andere noch ausrichten können, aber er bleibt ganz einfach mit seinem Werk eine Richtlinie für alle Menschen, die an die Zukunft noch glauben.

    Fischer: Das war Lucien Leitess, der Verleger Tschingis Aitmatows, über die kirgisische Welt in den Büchern des Schriftstellers und außerhalb.