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"Für mich sind diese Menschen Helden"

Wer im Nazi-Deutschland Juden rettete, setzte bewusst sein Leben aufs Spiel. Geehrt wurden diese Helden jedoch nicht. Erst in den vergangenen 20 Jahren untersuchten Wissenschaftler die Lebensläufe und Hintergründe dieser engagierten Menschen. Der Historiker Arno Lustiger, selbst Holocaust-Überlebender, geht in seinem neuen Buch "Rettungswiderstand" noch einen Schritt weiter.

Von Dörte Hinrichs und Hans Rubinich | 27.10.2011
    Ghetto, Zwangsarbeiterlager, Vernichtungslager. Das sind die Stationen, die Arno Lustiger von 1943-1945 durchlebt, durchlitten und überlebt hat. Er war in fünf Konzentrationslagern, unter anderem in Auschwitz und Buchenwald, bevor er unerwartet Hilfe erfuhr.

    "Ich hatte einen Todesmarsch. Man marschiert nur nachts. Das war im April 45, ich hatte wahnsinnigen Hunger, weil wir keine Verpflegung bekommen hatten. Wir marschierten und wir gingen an einem Dorf vorbei. Ich bin dann geflüchtet. Und habe dann in einer Hütte angeklopft. Und heraus kam ein verschlafener Offizier und wollte wissen, was ich will. Da sagte ich, können Sie mir etwas zu essen geben? Er ging hinein. Und ich wusste ja nicht, soll ich weglaufen, wird er die Feldpolizei alarmieren? Aber ich bin geblieben. Und er kam heraus mit dem Kanten Brot. Das hat mich für eine gewisse Zeit gerettet."

    Doch damit ist Arno Lustiger noch nicht endgültig gerettet. Angehörige des Volksturms greifen ihn auf. Lustiger flieht erneut. Schließlich finden ihn amerikanische Soldaten und bringen ihn in Sicherheit.

    Nach dem Krieg geht Arno Lustiger nach Frankfurt am Main und leitet ein Textilunternehmen. Viele Mitglieder seiner Familie haben den Holocaust nicht überlebt, es gab misslungene, aber auch gelungene Rettungsversuche. Über seine eigene Geschichte hat er lange Zeit geschwiegen:

    "40 Jahre lang habe ich kein Wort über das gesagt, was ich mitgemacht habe, die vielen Lager, zwei Todesmärsche. Meine Kinder fragen mich nach meiner Häftlingsnummer auf meinem Arm. Ich sagte, es wäre meine Telefonnummer. Ich glaubte, dass viele Menschen das gar nicht glauben würden, was man da erzählt. Man wollte diese Geschichten nicht, leicht vernarbte Wunden wieder aufreißen."

    Alles, was er darüber an Informationen finden kann, sammelt er. Von 2004 bis 2006 hält Lustiger Vorlesungen als Gastprofessor am Fritz Bauer-Institut an der Frankfurter Universität. Der jüdische Widerstand und die Judenretter in Deutschland und im besetzten Europa beschäftigen ihn – und faszinieren auch seine Studenten. Einer von ihnen brachte Lustiger auf die Idee, seine Ergebnisse zu veröffentlichen.

    "Und einer der Studenten war genauso wie ich. Er liebte sehr lateinische Sentenzen und Sprichwörter. Und er sagte: Herr Professor, jetzt sage ich ihnen eine lateinische Sentenz, die wird sie überzeugen. Und er sagte: "Verba volant, scripta manent". "Worte verfliegen. Geschriebenes bleibt". Das hat mich überzeugt, denn wenn wir nicht mehr da sind, wer wird diese Geschichte schreiben? So habe ich meine Materialen, die ich hatte, zusammengesammelt und aktualisiert. Und natürlich zusammengefasst. Und daraus ist das Buch entstanden."

    Doch was waren das für Menschen, die versuchten, den Verfolgten zu helfen? Die einen handelten aus christlicher Nächstenliebe, andere hatten politische Gründe. Und wieder andere halfen spontan, wenn plötzlich Juden bei ihnen anklopften und um Hilfe baten. So unterschiedlich wie die Motive waren auch die Biografien der Helfer, so Arno Lustiger:

    "Zu verschieden waren die Länder, in denen sie agierten, die Menschen, aus den Schichten, die sie stammten von unten bis nach oben. Es gab eine Prostituierte, es gab eine Gräfin, die Juden gerettet hat. Es gab sehr verschiedene, sodass man einen gemeinsamen Nenner für alle diese Retter nicht finden kann, unmöglich."

    Das Risiko, das die Menschen eingingen, die Juden bei sich aufnahmen, war groß. Die Folgen bei einer Entdeckung waren allerdings nicht einheitlich geregelt:

    "Die Retter im Osten mussten mit der Todesstrafe rechnen, zum Beispiel in Polen oder in Weißrussland. Hingegen in Deutschland und in anderen westlichen Ländern, gab es eine ganze Skala von Strafen. Von einer Verwarnung bis höchstens einen KZ-Aufenthalt mit möglicher Todesfolge. Aber es gab keine Todesstrafe dafür."

    Doch in großer Angst musste jeder leben. Und für einen Helfer, der sich entschloss Juden zu verstecken, änderte sich das Leben völlig.

    "Er musste aufpassen, damit die Nachbarn nichts merken, sonst wäre er denunziert worden. Er musste Lebensmittel einkaufen in größeren Mengen als sonst. Und die Retter wussten nicht, wie lange das dauern wird. Monate, Jahre vielleicht, das war eine Zeit der Ungewissheit."

    Lustiger geht von 100.000 geretteten Juden aus. Für sein Buch hat er bisher unveröffentlichtes Material ausgewertet, aus über 30 Ländern. Er beschreibt über 200 Einzelpersonen und Gruppen, die Juden gerettet haben. Darunter auch das holländische Dorf Niewlander, dessen Bürger Juden bei sich versteckten und dafür weite Wege in Kauf nahmen.

    "Da in dieser Gegend bisher überhaupt keine Juden gelebt haben, sind sie nach Amsterdam gefahren, die große jüdische Metropole und haben mit den Menschen gesprochen und ihnen versprochen, sie zu verstecken in ihrem Dorf. Auch Kinder. Sie haben die Eltern angesprochen, sie sollen ihnen die Kinder überlassen und sie werden dann überleben. So auch geschehen. Und diesem Dorf Nieuwlander wurden sehr viele jüdische Familien und Kinder ohne Eltern versteckt und die haben überlebt."

    Es gab sogar auch Helfer in der SS.

    "Zum Beispiel in Amsterdam gab es Alfons Zündler, ein SS-Mann, der in der Sammelstelle zum Abtransport nach Auschwitz tätig war. Und er hat bewirkt, dass eine große Anzahl von Kindern flüchten konnten. Er wurde aber nicht geehrt, weil er SS-Mann war."

    Nach dem Krieg blieben die meisten Helfer lange Zeit unerkannt - oder schlimmer noch: Sie mussten im neuen Deutschland damit rechnen, als Verräter beschimpft zu werden. Aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar. Arno Lustiger erklärt es sich so.

    "Es gibt keine Forschung zu dem Thema, aber meine eigene Meinung ist die: Im Unterbewusstsein oder bewusst, haben die Menschen das Thema gemieden, weil die Retter ihnen einen Spiegel vorgehalten haben, dass es Möglichkeiten gegeben hat, zu agieren und Menschenleben zu retten."

    Auch Menschen, die Mitglieder seiner eigenen Familie retteten, wollten zunächst lieber nicht genannt werden.

    "Eine polnische Familie hat eine Cousine von mir, eine kleine Cousine von vier Jahren versteckt und gerettet. Und als die Eltern, die überlebt haben, das Kind abholen wollten, haben sie gebeten, man soll nicht kommen. Die Nachbarn sollen nicht erfahren, dass sie ein jüdisches Kind gerettet haben. Also in diesen Kreisen war es nicht erwünscht, als Judenretter überhaupt erwähnt zu werden."

    Nach Lustiger gibt es noch einiges zu erforschen. Etwa wie Juden Juden gerettet haben. Wie sie Ausreisen ins Ausland organisierten und Papiere besorgten. Wer auch immer sich für Juden einsetzte, für Lustiger sind sie ganz besondere Menschen.
    "Ja, ich bezeichne die Menschen als Helden. Manche Militärhistoriker zum Beispiel meinen, das wären nicht Helden. Denn die selbst haben sich nicht als Helden betrachtet, sondern sie glaubten, eine nationale Pflicht oder menschliche Pflicht erfüllt zu haben.
    Aber jemand, der sein Leben riskiert und der seine Familie in Gefahr bringt, um Menschen zu retten, die er manchmal vorher gar nicht kannte, das sind für mich Helden. Ich glaube, dass diese Bezeichnung zu Recht besteht."

    Das Buch "Rettungswiderstand. Über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit" von Arno Lustiger ist im Wallstein Verlag erschienen und kostet 29,80 Euro.