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Für Wechsler geht es meistens abwärts

Deutschlands Schulen produzieren mehr Absteiger als Aufsteiger. Das ist das Ergebnis einer Studie der Bertelsmann Stiftung. Bundesweit sind im Schuljahr 2010/2011 50.000 Kinder in der Schulform abgestiegen, nur 23.000 gelang der Aufstieg in eine höhere. Die einzige Ausnahme bildet Bayern.

Von Claudia van Laak | 30.10.2012
    Ali Hotait ist ein Bildungsab- und Aufsteiger gleichermaßen. Realschule in Berlin, wegen schlechter Leistungen auf die Hauptschule geschickt, dort große Langeweile, Ausbildung als Dreher, Fachabitur, Studium, jetzt Promotion. Der 34-Jährige ist eine große Ausnahme im deutschen Bildungssystem.

    "Also aus meiner Erfahrung ist das deutsche Bildungssystem zunächst der reinste Hürdenlauf und als zweites ist es extrem undurchlässig, die Wege sind zuzementiert, man wird früh auf Gleise gestellt, von denen man nicht runter kommt."

    Der Aufzug fährt öfter nach unten als nach oben – Deutschlands Schulen produzieren mehr Absteiger als Aufsteiger. Das ist auch das Ergebnis einer Studie der Bertelsmann-Stiftung, die am Vormittag in Berlin vorgestellt wurde. Bundesweit wurden im Schuljahr 2010/2011 50.000 Kinder abgeschult, nur 23.000 gelang der Aufstieg in eine höhere Schulform. Bertelsmann-
    Vorstandsmitglied Jörg Dräger:

    "Es gibt deutlich mehr Abstiege als Aufstiege im deutschen Schulsystem, auf zwei Absteiger kommt ein Aufsteiger im Durchschnitt. Aber es gibt auch Länder wie Niedersachsen, wo zehn Schüler absteigen, aber nur einer aufsteigt."

    Problematisch in Niedersachsen: Die Hauptschule ist dort zur Restschule geworden, produziert Bildungsverlierer. Jeder dritte Hauptschüler in Niedersachsen besucht diese Schulform nicht freiwillig, ist von der Realschule abgestiegen. Eine schlechte Voraussetzung für Schulerfolg, sagt Gabriele Bellenberg, Bildungsforscherin an der Uni Bochum und Autorin der Studie:

    "Das liegt ganz schlicht daran, dass in diesem gegliederten Schulsystem die Hauptschule so quantitativ unbedeutsam ist, nur zehn Prozent besuchen diese Schulform, das führt dazu, dass nur noch auf diese Schule wechseln, die gezwungenermaßen dort hin wechseln und wenn sie kein Potenzial für Aufstieg haben, wo sollen die Aufsteiger herkommen."

    Anders in Bayern, dort existiert ein dreigliedriges Schulsystem, das mehr Auf- als Absteiger produziert. Das liegt daran, dass in Bayern nach wie vor jeder vierte Schüler die Hauptschule besucht, sie also, im Gegensatz zu Niedersachsen, nicht zur Restschule geworden ist. Allerdings wird in Bayern der Aufstieg von der Realschule aufs Gymnasium mit der Wiederholung der fünften Klasse erkauft.

    Mehr Durchlässigkeit bedeutet mehr Chancengerechtigkeit, doch ob ein Schulsystem durchlässig ist, hängt nicht von seiner Struktur ab, bilanziert die Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. Vorstand Jörg Dräger hält allerdings ein Schulsystem, das weder Ab- noch Aufsteiger produziert, für das beste. Alle Schüler sollten mitgenommen werden, ein Klassen- oder Schulwechsel sei immer eine Belastung.

    "Der Wechsel ist kein positives Zeichen, also besser wäre ein Schulsystem, was durch individuelle Förderung eben innerhalb des Klassenverbundes mit der Unterschiedlichkeit der Kinder umgeht und nicht versucht zu sortieren."

    Vom Hauptschüler zum Doktoranden - Ali Hotait weiß, was Bildungsaufstieg bedeutet. Für den 34-Jährigen bedeutet der Aufstieg nicht nur Positives, man verliert seinen Freundeskreis, bilanziert er. Ali Hotait rät den Bildungspolitikern:

    "Die ganzen Hürden abzubauen und dieses Klassendenken endlich abzuschaffen, das es Bildung zweiter Klasse und dritter Klasse eigentlich nicht geben darf. Sondern ein einfaches einheitliches Bildungssystem, wo jeder, egal welcher Herkunft er ist, eine gute Bildung durchlaufen kann."

    Für dieses Ziel setzt er sich gemeinsam mit Gleichgesinnten ein. Sie haben die Initiative "Was bildet ihr uns ein" gegründet, um Hürden im deutschen Bildungssystem abzubauen.