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Fukushima
Atomkatastrophe im Auge des Mangas

Kaum ein Ereignis hat die Welt in den letzten Jahren so sehr erschüttert wie die Dreifachkatastrophe von Fukushima. Sie hat das öffentliche Leben verändert, das sich in Japans spezifischer Mangakultur widerspiegelt. Mangas, die sich mit Atomkraft beschäftigen, gibt es schon lange. Jetzt werden sie ganz neu gelesen.

Von Claudia Euen | 11.03.2014
    Manga-Comics
    Viele Mangazeichner arbeiteten sich an der Atombombe ab, seit Fukushima geht es auch um Atomkraftwerke. (picture-alliance / dpa)
    Japan, August 1945. Zwei Kinder stehen auf den Straßen Hiroshimas und starren in den Himmel. Das ist eine B-29, sagt ein kleiner Junge. Das ist aber komisch, sagt das Mädchen. Es gibt gar keinen Fliegeralarm. Kurze Zeit später rast die erste von zwei Atombomben, die jemals in einem Krieg eingesetzt wurden, gen Erde.
    "Barfuß durch Hiroshima" gehört zu den bekanntesten Mangas Japans. Auf rund 2500 Seiten wird die Geschichte des sechsjährigen Gen Nakaoka erzählt, der beim Bombenangriff seinen Vater und seine Geschwister verliert und mit seiner Mutter aus der zerstörten Stadt flieht. 1973 erschien die Comicserie erstmals, in den 80er Jahren entstanden zwei Animationsfilme. "Barfuß durch Hiroshima" wurde insgesamt über sechs Millionen Mal verkauft und gehört seitdem zum kulturellen Gedächtnis des Landes. Bis zur Dreifachkatastrophe von Fukushima am 11. März wurde die Geschichte des kleinen Gen sogar in Grundschulen gelehrt - seitdem aber wird sie anders wahrgenommen, sagt die japanische Manga-Forscherin Miho Takeuchi.
    "Manga wird jetzt neu gelesen"
    "Vor Fukushima wurde 'Barfuß durch Hiroshima' eigentlich gleichgesetzt mit der Atombombe. Wenn es darum ging, etwas über die Folgen der Atombombe zu lernen, wurde er auch im Unterricht eingesetzt. Bis dahin hatte man Atombomben und Atomkraftwerke nicht zusammen gedacht. Das hat sich seit Fukushima verändert. Man hat jetzt festgestellt, dass Atombomben und Atomkraftwerke etwas miteinander zutun haben. 'Barfuß durch Hiroshima' ist zwar eine Kritik am Krieg, aber man findet darin auch viele Aspekte, die sich in der modernen japanischen Gesellschaft wiederfinden. Und deshalb wird der Manga jetzt ganz neu gelesen."
    Die Japaner lieben Comics. Die Bildergeschichten sollen unterhalten und den Leser in eine andere, künstliche Welt katapultieren. Deshalb stellten Manga-Verlage kurz nach der Fukushima-Katastrophe Comics gratis zur Verfügung, um den Kindern der betroffenen Region Trost zu spenden. Dennoch: Wer sich Wissen über die Gefahren der Kernkraft aneignen wollte, wurde vor dem 11. März 2011 auch in der Mangaszene fündig. "Die Legende vom Weißen Drachen" zum Beispiel handelte von den schlechten, weil gefährlichen Arbeitsbedingungen in einem Atomkraftwerk. Nach der Katastrophe übte der Verlag Selbstzensur. So wie 'Barfuß durch Hiroshima' zum Teil aus dem Schulbibliotheken entfernt wurde, verschwand das Thema Atomkraft aus der Bildergeschichte - aus Rücksichtnahme, sagt Miho Takeuchi.
    "Autor und Verleger wollten die Gefühle der Opfer respektieren. Ich vermute, dass sie aus Angst vor möglichen Beschwerden der Opfer zu anderen Themen übergingen. Zu Beginn war der Manga fiktiv. Nach dem Erdbeben und dem Unfall im Atomkraftwerk ging diese Fiktion jedoch auf einmal in die Wirklichkeit über. Man muss aber eine künstlerische Distanz wahren, um Ereignisse verarbeiten zu können."
    Gutes und böses Atom
    Der Umgang mit der Katastrophe vom 11. März 2011 ist sensibel. Dennoch markiert das Ereignis eine Zäsur in der Kunst-, Theater-, und Manga-Szene. Nicht die Kunst selbst, sondern die Haltung ihr gegenüber, beginnt sich zu verändern. Das ist der Tenor des "Lesebuch Fukushima", in dem Japanologen der Universitäten Leipzig und Frankfurt Zeitzeugendokumente übersetzten, Interviews mit Aktivisten und Künstlern führten und die Texte seitdem auf der Webseite "Textinitiative Fukushima" sammeln. Das Bewusstsein, dass jeder Einzelne mitentscheiden kann, wächst. Umfragen zu Folge sind über 50 Prozent der Japaner heute gegen Atomkraft. Dabei gehörte sie für die Inselbewohner, deren Land 1945 von zwei Atombomben zerstört wurde, bis 2011 zur Normalität. Die Bevölkerung bestand nur zu einem kleinen Teil aus Atomkraftgegnern, ein Großteil waren Befürworter und Konsumenten. Die in den 1970er Jahren entstandene Anti-AKW-Bewegung in Japan war nicht - wie in Europa - im Parteiensystem verankert - ein Widerspruch, den die Herausgeberin des Buches und Japanologie-Professorin Steffi Richter seitdem erforscht.
    "Dass sehr bald eine Logik in der japanischen Gesellschaft hegemonial gemacht werden konnte, die sagt, gerade weil wir die Atombomben erleiden mussten, sind wir dazu aufgerufen, diese Energie in eine friedliche in eine gute Energie umzuwandeln, um den Fortschritt der Menschheit mit voranzutreiben. Diese Aufspaltung in ein gutes und ein böses Atom, wie sich das in Japan mit Manipulation, mit Druck, mit Maulkörben gegenüber Anti-Stimmen gezeigt hat, das haben wir herausgefunden."
    Im Buch "Manga nach 3/11" treffen Kinder auf eine kastenartige weibliche Figur, die traurig am Flussufer sitzt. Sie warnt davor, näher zu kommen, denn sie sei ein durch ein Erdbeben erkranktes Atomkraftwerk. Kurz darauf begreifen die Kinder, dass sie kein Ausnahmefall ist; die Kastenfiguren klagen über ihren riskanten Standort, andere über ungenügende Sicherheitsvorkehrungen. Verlag und Autor bezogen öffentlich Stellung. Das Buch wurde im Februar 2012 vom japanischen Kulturamt ausgezeichnet.