In einem einfachen Haus eines Vororts von Santa Cruz klappt Sheyla endlich ihre Hefte zusammen. Schon länger rutscht die 13-Jährige nervös auf ihrem Stuhl hin und her, weil sie los will, wie an jedem Nachmittag. Denn nur wenn sie ihre Schule erledigt hat, erlaubt ihre Großmutter, dass Sheyla zu ihrer zweiten Schule fährt. Auf die freut sich das Mädchen schon den ganzen Tag.
"Ich habe schon immer gern Fußball gespielt. Ich glaube, ich trage das im Blut. Damit ich trainieren kann, fahre ich jeden Tag auch fast eine Stunde. Zuerst nehme ich einen Bus, der mich von meinem Zuhause bis zur Innenstadt bringt. Da nehme ich dann noch einen anderen Bus, der bringt mich zum Eingangstor der Tahuichi."
Sheyla trainiert bei der Academia Tahuichi in der Millionenmetropole Santa Cruz. Tahuichi begann vor 37 Jahren als Sozialprojekt. Heute ist sie eine der erfolgreichsten Fußballakademien der Welt. Bolivien ist das ärmste Land Lateinamerikas, Santa Cruz die gefährlichste Stadt des Landes. Unzählige Kinder leben auf der Straße, nehmen Drogen und müssten stehlen, um zu überleben. Aber das weißgrüne Trikot von Tahuichi bietet den Kindern eine Alternative. Sheyla streift es mit Stolz über. Denn in dicken Lettern steht darauf: "Sí al deporte, no a las drogas", Ja zum Sport, Nein zu den Drogen. Roly Aguilera, Präsident der Akademie, schaut über die sandigen Trainingsplätze am Rande von Santa Cruz:
"3.000 Kinder trainieren hier jeden Tag, ungefähr 85 bis 90 Prozent kommen mit einem Sportstipendium von uns. Wir geben ihnen also Schule und Kleider, die Kinder müssen nichts bezahlen. Wir sehen den Fußball wie einen Lebensweg, der vieles vorbeugen kann: Alkoholsucht, Drogenabhängigkeit, Gewalt in der Familie. Wir wollen ihnen ein gutes Zusammenleben lehren."
Die Erfolge sind beispiellos. Sechs Nominierungen für den Friedensnobelpreis, die Vereinten Nationen ernannten Tahuichi zur Friedensbotschafterin. Die FIFA zeichnete sie mit dem Fairplaypreis und einer Goldmedaille aus. Jedes Jahr bringen die Kinder und Jugendlichen Pokale von internationalen Turnieren mit. Insgesamt schon weit über 200. Der Nachwuchs von Real Madrid oder Bayern München fürchtet diesen Namen – Tahuichi. Die riesige Trophäensammlung will man bald in ein Museum verwandeln.
Xavier Azkargorta war Boliviens Nationaltrainer, als sich das Land 1994 voller Tachuichi-Absolventen für die Weltmeisterschaft qualifizierte. Heute trainiert er den Spitzenklub Bolívar aus der Regierungsstadt La Paz. Wieder ist sein Kader gespickt mit Tahuichi-Zöglingen. Ohne die Akademie seien Santa Cruz und der ganze Fußball im Land kaum vorstellbar, glaubt Azkargorta.
"Die Tatsache, dass sie Fußballer wie Erwin Sánchez, Marco Etcheverry oder Juan Manuel Penia rausgebracht hat, gab der Tahuichi in den 1990er-Jahren eine ganz neue Dimension. Bis heute ist das so. Die Tahuichi holt diese Kinder von der Straße, aus schwierigen Lebensumständen, und lässt sie als Persönlichkeiten wachsen. Einige von ihnen werden dann Profis, viele andere nicht. Aber allen hilft es, um dort zu reifen und sich auszubilden."
Nur warum ist Bolivien dann kein Fußballschwergewicht? Seit 1994 hat sich das Land nicht mehr für eine WM qualifiziert. Trotz der erfolgreichen Jugendarbeit fehlen im Erwachsenenbereich oft professionelle Strukturen, kritisieren viele Trainer. Aber es gibt auch eine erfreuliche Erklärung.
Eddy Hurtado war als Jugendlicher der beste Torwart der Akademie. Wie rund 100 andere Absolventen ging er danach an die Universität. Ein sozialer Erfolg, der auf Kosten des fußballerischen Niveaus Boliviens gehen mag. Aber auch im Straßenbild von Santa Cruz macht er sich bemerkbar. Zum Glück werden nicht alle Absolventen Profis, findet der 27-jährige Eddy Hurtado.
"Ich bin jetzt schon seit zehn Jahren hier. Früher habe ich hart trainiert, aber immer habe ich auch studiert. Hier konnte ich meine Schule fertig machen. Dank eines Stipendiums der Akademie konnte ich dann sogar Betriebswirtschaft studieren. Und danach habe ich einen Arbeitsplatz gefunden. Heute bin ich Personalchef hier in der Tahuichi."
Das bildungsfreundliche Motto der Akademie kennt auch Sheylas Großmutter Marlene Roca. Weil die Mutter nach Spanien gezogen ist, um Geld zu verdienen, sorgt sie für Sheyla. Ihre Enkelin ist die Hoffnungsträgerin der kleinen Familie geworden.
"Die Akademie ist schon sehr gut, weil sie die Kinder von all den Problemen ablenkt. Der Fußball beschäftigt sie. Für Sheyla würde es mir aber gefallen, wenn sie später eine normale Laufbahn anstrebt. Ich wünsche mir, dass sie mal studieren wird."
Sheyla will ihre Schule weitermachen. Ihre Träume aber sind andere:
"Ich würde am liebsten Fußballerin werden. Auch wenn ich mir das ein kleines bisschen schwierig vorstelle."
Bisher gibt es keine bolivianische Profifußballerin, und international gesehen ist Boliviens Frauenfußball eher schwach. Aber die Academia Tahuichi leistet auch hier Pionierarbeit. Da täglich Hunderte Mädchen auf den holprigen Plätzen in Santa Cruz trainieren, könnte auch Tahuichis weiblicher Nachwuchs irgendwann von sich reden machen.