Im vergangenen Sommer bewunderte der ganze Fußballplanet Deutschlands Weltmeister. Für die mannschaftliche Geschlossenheit, für die Spielweise, und die Beharrlichkeit, mit der Bundestrainer Joachim Löw trotz großer Widerstände seinen Weg verfolgte. Und wenn nötig Anpassungen vornahm. Doch nun hat Löw den Reset-Knopf gedrückt.
"Wir haben lange mit einer Idee und mit einer Vorgabe und mit Hartnäckigkeit gearbeitet an der Spielweise. Und jetzt habe ich das Gefühl gehabt, wir haben einen Höhepunkt erreicht, wir waren wirklich auch fußballerisch sehr gut, dass wir natürlich auch jetzt wieder neue Einflüsse brauchen und neue Reize brauchen."
Bei dieser Neuausrichtung fällt der Scouting-Abteilung eine wichtige Rolle zu. Zum einen, weil Löw den Erkenntnissen seiner Analysten schon immer viel Aufmerksamkeit schenkt. Und zum anderen, weil die Arbeit mit den Spieldaten sich inmitten einer hoch spannenden Entwicklung befindet. DFB-Chefanalyst Christofer Clemens hat gerade in einem Interview mit der Zeitschrift 11 Freunde gefordert, "die Grundannahmen der Spielanalyse komplett zu hinterfragen und gültige Annahmen bewusst auf den Kopf zu stellen". Denn die Auswertung von vermeintlichen Erfolgsfaktoren wie der im Spiel zurückgelegten Kilometer, der Zweikampfquote, der gelungen Pässe oder der Anzahl der Sprints lasse praktisch keine Schlüsse auf den Ausgang des Spiels zu. Zu dieser Einsicht kommt auch Professor Daniel Memmert, der am Kölner Institut für Kognitions- und Sportspielforschung seit Jahren an der Entwicklung von Analyseverfahren arbeitet.
"Die momentanen Anbieter, die liefern relativ viele Trivialparameter, und da hat man jetzt erkannt, dass man mit diesen Trivialparametern, das Spiel an sich oder auch Teilaspekte nur sehr vage abbilden kann."
Messung der Positionsdaten
Daher steht die Spielanalyse, in die Vereine und Verbände immer mehr Geld investieren, vor einer Revolution. Bei AZ Alkmar in der ersten holländischen Liga wurde der berühmte amerikanische Statistiker Billy Beane engagiert, mit dessen Neuinterpretation des vorhandenen Datenmaterials die Oakland A's im US-Baseball urplötzlich zu einer Spitzenmannschaft wurden. Nun soll er sein Wissen in den Fußball einbringen. Und der Deutsche Fußball-Bund arbeitet gemeinsam mit dem Softwareentwickler SAP an neuen Analyseverfahren. Der Schlüssel soll in den so genannten Positionsdaten liegen, also in der Messung des Standortes aller Spieler und des Balles in jedem Moment des Spiels. Jens Wittkopf, der Chefentwickler von SAP.
"Angenommen, wir haben diese Informationen in der Genauigkeit, dann könnten wir natürlich solche Analysen machen, zum Beispiel: Diese Dreier-, Vierer-, Fünfer- Abwehrkette, hat die jetzt funktioniert? In welchen Situationen müssen das jetzt drei, vier oder fünf sein? Hat die Mannschaft das verstanden? Und dann kommt man in diese Thematik rein: Was sind denn die genauen Erfolgsfaktoren?"
Doch dazu müssen die Trainer und die Spielanalysten lernen, die richtigen Fragen zu stellen. Parameter zu definieren und Algorithmen zu programmieren. Denn erhoben werden die Positionsdaten schon jetzt. Entwicklungspotenziale liegen im besseren Verständnis und der richtigen Auswertung des Materials, sagt Wissenschaftler Memmert.
"Unsere Veredelung von Positionsdaten stützt sich mehr auf gruppentaktische Prozesse, oder auf komplexere individualtaktische Prozesse. Also wenn es zum Beispiel um eine Vorwärtsverteidigung geht, um eine Verdichtung hin zum Ball, wenn es darum geht, Kompaktheit zu haben. Das Neue ist einfach, dass man nicht nur nach singulären Parametern sucht, sondern, dass man nach komplexeren Zusammenhängen sucht: die eigene Mannschaft, die gegnerische Mannschaft. Raumkontrolle in Kombination mit Pässen, mit Formationen auf dem Spielfeld."
Die Erfolgsindikatoren
Die Erfolgsindikatoren können dabei je nach Mannschaft, nach Spielphilosophie, nach Aufstellung und nach Gegner an ganz unterschiedlichen Stellen liegen. Zunächst muss jedoch die Analysesoftware entsprechend programmiert werden, die Analysten müssen sich weiterbilden. Aber der nächste Schritt steht unmittelbar bevor.
"Ich glaube, wir sind dann bei der Spielanalyse 3:0, wenn wir einfach die Datenanalyse dem Computer überlassen. Den Menschen, den Fußballexperten, den braucht man an zwei Stellen. An der einen Stelle, um genau die Parameter zu extrahieren, die wichtig sind für die Spielphilosophie, für diesen Verein, für diesen Trainer, für dieses Trainerteam. Und später brauchen wir die Expertise, um die gewonnen Daten zu interpretieren. Im Moment ist die klassische Art, Spiele zu analysieren, immer noch so, dass sich jemand hinsetzt und die Szenen aus dem Spiel herausnimmt."
Wenn dieser Prozess automatisiert ist, könnten tatsächlich Kapazitäten frei werden, mit denen sich bislang unbekannte Mechanismen und Zusammenhänge entdecken lassen. Es ist die Suche nach einer Erfolgsformel.
"Also ich bin da ganz fest davon überzeugt, dass es so etwas gibt",
sagt Memmert. Und der Wettlauf der Analysten hat längst begonnen. Auch in Spanien oder England wird intensiv geforscht und entwickelt. Aber der deutsche Fußball scheint mal wieder ganz gut im Rennen zu liegen.