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Fußball und Folter
Wie Argentinien an 1978 erinnert

Die Weltmeisterschaft, die vor Russland wohl die größten politischen Debatten auslöste, war jene 1978 in Argentinien. Sie fand statt in einer Militärdiktatur, der 30.000 Menschen zum Opfer fielen. Wie wird der Fußball 40 Jahre später in die Erinnerungskultur eingebunden?

Von Ronny Blascke | 27.05.2018
    Argentiniens Mario Kempes jubelt, während der niederländische Tormann Jan Jongbloed geschlagen am Boden liegt. Kempes erzielte das 1:0 für Argentinien im Finale der Fußball Weltmeisterschaft am 25.06.1978 im River Plata Stadium in Buenos Aires. Argentinien gewann den Weltmeistertitel nach Verlängerung mit 3:1 Toren.
    Argentiniens Mario Kempes jubelt nach dem 1:0 im WM-Finale 1978 (dpa/picture alliance/John Eggitt)
    Das Zentrum von Buenos Aires. An jedem Donnerstag treffen sich vor dem Präsidentenpalast die Madres de Plaza de Mayo. Die Mütter vom Plaza de Mayo sind eine der bekanntesten Menschenrechtsorganisationen Lateinamerikas. 1977 hatten die Mütter erstmals Aufklärung gefordert, für den Verbleib ihrer entführten Kinder.
    Da Proteste im Stehen verboten waren, drehten sie auf dem Platz einige Runden. So auch am 1. Juni 1978, dem Eröffnungstag der WM, als Titelverteidiger Deutschland in Buenos Aires gegen Polen spielte. Der Autor Matías Bauso hat gerade ein 1.000 Seiten starkes Buch zur WM 1978 vorgelegt.
    "Die Frauen wurden von der Polizei aufgehalten"
    Bauso sagt: "Die Stadt war wie leer gefegt, alle saßen vor dem Fernseher. Doch auf der Plaza de Mayo trafen sich 20 Frauen mit Fotos ihrer verschleppten Söhne. Mit dabei war ein holländisches Kamerateam, das einen kritischen Fernsehbericht drehte.
    Das sprach sich schnell herum, und so schickten eine Woche später alle europäischen Fernsehsender ein Kamerateam auf die Plaza de Mayo. Aber dieses Mal kamen keine Frauen auf den Platz, sie wurden von der Polizei vorher aufgehalten."
    Der Autor Matías Bauso
    Der Autor Matías Bauso (Ronny Blaschke/dlf)
    Die WM 1978 dauerte 24 Tage, doch bis heute scheint sie nicht abgeschlossen zu sein. Kommentare, Fotos und Dokumente rücken Spiele in ein neues Licht. Ein Beispiel: das entscheidende Zwischenrundenspiel Argentiniens gegen Peru. Wurden die Peruaner in der Kabine von Diktator Jorge Videla beeinflusst? Ließ Argentinien als Dank für den 6:0-Sieg peruanische Oppositionelle beseitigen?
    Es gibt Anhaltspunkte, keine Beweise. Und auch die argentinischen Weltmeister möchten heute ungern über die politischen Umstände sprechen. Der Journalist Ezequiel Fernández Moores hat lange Interviews mit ihnen geführt, auch mit Trainer César Luis Menotti. Er erzählt.
    "Menotti war damals Anhänger der kommunistischen Partei. Ich habe seine Haltung lange kritisch gesehen und gefragt: Hätte er die Junta deutlicher kritisieren müssen? Aber mit der Zeit bin ich verständnisvoller geworden.
    Menotti war 1978 noch keine 40 Jahre alt. Er betonte bei der WM: Wir spielen für die Menschen. Er sagte nie: Wir spielen für das Militär. In den vergangenen Jahren wirkt seine Haltung auf mich etwas negativer. Auch die meisten Spieler möchten nicht mehr über die Diktatur sprechen. Sie sagen, sie mussten ihren Job erfüllen – und sie wussten nichts von den Folterzentren."
    Passarella oder Kempes wollen sich nicht zu Politik äußern
    Welche Rolle spielt der Fußball in der Erinnerungskultur? Die Argentinos Juniors, der Jugendverein Diego Maradonas, widmete seinen ermordeten Fans eine Wandmalerei im Stadion. Aber es gab nur wenige Weltmeister von 1978, die sich an Gedenkaktionen beteiligten: Osvaldo Ardiles, Ricardo Villa oder Leopoldo Luque trafen sich Anfang des Jahrtausends mit Müttern der Plaza de Mayo.
    Derweil wollen sich Führungsspieler wie Kapitän Daniel Passarella oder Torschützenkönig Mario Kempes nicht ausführlich zu Politik äußern. Der Autor Matías Bauso wirft noch eine andere Frage auf, die bis in die Gegenwart reicht: Hatte die WM einen langfristigen Propagandaeffekt? Er meint:
    "Die Propaganda hat innenpolitisch nur kurz funktioniert. Die WM war für viele ein schönes Fest, aber nicht mehr. Und auch außenpolitisch haben die Täuschungsversuche der Junta nicht wirklich etwas gebracht. Die Madre de Plaza de Mayo waren plötzlich in ganz Europa bekannt."
    "Diese Geschichten sind schrecklich"
    Im Norden von Buenos Aires hatte die Esma ihren Platz, die Mechanikerschule der Marine. Während der Militärdiktatur war hier ein Folterzentrum untergebracht. Häftlinge wurden betäubt und über dem Río de la Plata abgeworfen. Heute ist hier ein Kulturzentrum mit Museen und Menschenrechtsbüros. Die Politikwissenschaftlerin Luciana Bertoia arbeitet für "Memoria Abierta", die offene Erinnerung. Bertoia sagt:
    "Als Argentinien am 25. Juni 1978 Weltmeister wurde, glaubte das Regime ganz fest an seine Macht. Das Monumental Stadion, in dem das Finale stattfand, lag wenige hundert Meter von der Esma entfernt. Alle Hinweise auf ein Folterzentrum waren beseitigt worden. Zehntausende Menschen feierten ausgelassen auf den Straßen.
    Ein Wachmann fuhr mit Häftlingen durch die Straßen, er wollte sie demütigen. Niemand von ihnen traute sich, um Hilfe zu rufen. Vermutlich hätte auch ihnen niemand geglaubt. Diese Geschichten sind schrecklich. Aber wir sollten sie jungen Menschen erzählen, die in demokratischen Verhältnissen aufgewachsen sind. Daher gehen wir auch auf Kinder in Sportvereinen zu. Sie sollen wissen: der Preis für den WM-Triumph war hoch."
    Die Politikwissenschaftlerin Luciana Bertoia
    Die Politikwissenschaftlerin Luciana Bertoia (Ronny Blaschke/dlf)
    Aus den Lautsprechern tönt die WM-Eröffnungsrede von Diktator Videla. Zwischen rissigen Wänden berichtet eine Sonderausstellung über Sport in Diktaturen. Etliche Schulklassen waren da, Fußballvereine kaum.
    Auch der Argentinische Fußballverband Afa interessiert sich wenig für das Gedenken, er war eng mit der Militärjunta verbandelt. Argentinien möchte die WM 2030 ausrichten, gemeinsam mit Paraguay und Uruguay. Es wäre für den Fußball eine Chance, um der Welt zu zeigen, dass 1978 nicht vergessen ist.