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Fußball-WM 2014
Brasilianische Migranten in Portugal unterstützen die Demonstranten in ihrer Heimat

Die politischen Probleme in Brasilien kommen auch in Lissabon zur Sprache. Die brasilianischen Migranten in Portugal unterstützen die Proteste in ihrer Heimat und organisieren Diskussionsrunden. Egal ob in Lissabon oder São Paulo: Die Brasilianer scheinen wesentlich kritischer geworden zu sein.

Von Tilo Wagner | 12.06.2014
    Eine Demonstrantin hält in Sao Paula eine Fahne Brasiliens mit der Aufschrift "Fifa, fahre zur Hölle!" in die Höhe.
    In Brasilien kritisieren viele Bürger die Kosten für die Austragung der Fußball-WM. (pa/dpa/EFE/Moreira)
    Brasilianer findet man in Lissabon dort, wo die Musik spielt. Im Erdgeschoss eines Altbaus im beliebten Ausgehviertel Bairro Alto tanzt ein Dutzend Frauen und Männer zu den Klängen von Trommeln und Berimbau: der traditionelle Kampftanz Capoeira im Herzen der Lissabonner Altstadt. Der Capoeira-Meister André Vieira lebt seit 13 Jahren in Portugal. Er sagt, es sei nicht nur die Sprache, die seine alte und seine neue Heimat miteinander verbindet:
    "Portugal ist wie ein verbessertes Brasilien. Es gibt hier zwar kaum Gewalt wie bei uns. Aber leider auch sehr viel Korruption und soziale Ungleichheit. Wir leben in keinem Wunderland, aber es gefällt mir hier. Und das Land ist klein. Das ist ein Vorteil: Portugal kann sich viel schneller zum Guten wandeln als meine riesige Heimat Brasilien."
    Direkt über der Tanz-Schule sitzen Cyntia de Paula und Patrícia Peret im "Casa do Brasil", einer Anlaufstelle für die schätzungsweise 150.000 Brasilianer, die in Portugal leben. In zwei Phasen sind sie ausgewandert: In den 1980er-Jahren kamen hoch qualifizierte Brasilianer, vor allem Zahnärzte, nach Portugal; später folgten einfache Arbeiter, häufig ohne Berufsausbildung. Diese letzte Gruppe habe unter der Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre stark gelitten, sagt die Psychologin Cyntia:
    "Die überwiegende Mehrheit der Brasilianer arbeitet im Dienstleistungsbereich. Und dort gab es den größten Stellenabbau. Mittlerweile kommen wieder mehr Brasilianer mit Uniabschluss nach Portugal, und die haben hier mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Aber die große Gruppe, die kaum Berufsqualifikationen vorweisen kann, hat die Krise sehr getroffen."
    "Fußball ist nicht der Grund, warum wir unzufrieden sind"
    Die brasilianische Gemeinde hat am eigenen Leib erfahren, wie verheerend sich die Sparpolitik in Portugal auf das Sozial- und Gesundheitssystem auswirkt. Im "Casa do Brasil" versucht die Anwältin Patrícia Peret, die sozialen Rechte ihrer Landsleute in Portugal zu stärken, indem sie ihnen juristischen Rat anbietet. Sie versteht, warum viele brasilianische Migranten die Demonstranten in Brasilien unterstützen:
    "Der Fußball ist nicht der Grund, warum wir unzufrieden sind. Die WM ist eine große Party mit viel Sport und Unterhaltung, die uns allen große Freude bereiten wird. Was uns stört, sind die Argumente der Politiker. Jahrelang haben sie uns gesagt, dass kein Geld da ist, um das Leben zu verbessern. Und jetzt wird auf einmal so viel Geld in die ganzen Stadien investiert, und gleichzeitig gibt es in den öffentlichen Krankenhäusern keine Betten, und die Neugeborenen müssen in Pappschachteln und die Kranken auf dem Boden liegen."
    Die Brasilianer in Lissabon haben Diskussionsrunden organisiert, in denen die politischen Probleme in Brasilien zur Sprache kommen. Cyntia de Paula glaubt, dass die Brasilianer insgesamt heute wesentlich kritischer seien als noch vor ein paar Jahren, egal ob in Lissabon oder in São Paulo:
    "Brasilien muss endlich ein entwickeltes Land werden"
    "Wir sind über das Internet mit unserer Heimat verbunden, außerdem reisen wir Brasilianer viel mehr. Die Informationsgesellschaft und die Kultureinflüsse schaffen eine kritischere Masse. Dazu kommt ein Phänomen, dass wir hier in Portugal sehr deutlich beobachten können: Immer mehr brasilianische Studenten gehen für ein Auslandsjahr nach Europa, und das wird sogar von der Regierung mit Stipendien gefördert. Diese Erfahrungen der Studenten erweitern natürlich das Bewusstsein."
    Im Bairro Alto in Lissabon locken die Bars und Restaurants ihre Gäste mit Live-Musik. Die Mehrheit der Musiker ist Brasilianer, so wie Roberto da Luz, der seit 10 Jahren in Portugal lebt. Wenn er an die WM denkt, die in diesen Tagen in seiner Heimat beginnt, dann erinnert er sich an die guten alten Zeiten:
    "Früher haben die Fußballer aus reiner Liebe zu ihrem Nationaltrikot gespielt. Für ihr Vaterland wären sie auf dem Platz gestorben. Heute geht es nur ums Geld. Es ist eine einzige große Manipulation. Ich weiß nicht, wer gewinnen wird. Ich weiß nur: Der brasilianische Staat muss Weltmeister werden: Weltmeister in der Gesundheitsversorgung, in der Sicherheit, in der Bildung, um endlich ein entwickeltes Land zu werden. Wenn wir in diesen Bereichen nicht Weltmeister werden, dann werden die Massen keine Ruhe geben und immer wieder rebellieren."