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Fussballweltmeisterschaft
Tausende Familien in Brasilien enteignet

Die Fußball-WM bringt Brasilien moderne Stadien, neue Straßen und Metrolinien. Der Bauboom hat aber auch eine Schattenseite: In mehreren Städten mussten dafür Hunderte Wohnhäuser abgerissen werden, die Besitzer wurden enteignet, so auch in Recife im Nordosten von Brasilien.

Von Burkhard Schäfers | 29.05.2014
    Blick auf die Arena Pernambuco in Recife, Brasilien (aufgenommen am 23. Juni 2013).
    Die Arena Pernambuco in Recife wurde für die Fußballweltmeisterschaft 2014 gebaut. (picture alliance / dpa - Srdjan Suki)
    Die schöne neue Welt entsteht circa 20 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt: Rund um die Fußball-Arena von Recife wachsen Luxusappartements, Bürotürme und Hotels in den Himmel. In der Cidade da Copa - WM-Stadt - sollen einmal Zehntausende Menschen leben. Nur ein paar hundert Meter weiter herrscht allerdings nicht Aufbruch-, sondern Abbruchstimmung:
    Rund 80 Häuser haben die Bulldozer in diesem Viertel weggerissen, um Platz zu schaffen für die neue Metrostation, das Bus-Terminal und eine breite Zufahrtsstraße zum Stadion.
    "Das hier ist jetzt eine richtige Wüste geworden. Viele Familien haben über Jahrzehnte investiert, um dann, wenn sie alt sind, ein Dach überm Kopf zu haben. Und jetzt das."
    Betroffene müssen auf Entschädigung warten
    Jeronimo Oliveira hat hier jahrzehntelang gelebt, auch das Haus des 72-Jährigen steht nicht mehr. Er ist empört, vor allem darüber, wie die Behörden vorgegangen sind.
    "Mein Haus zum Beispiel hatte einen Marktwert von 150.000 Reals. Angeboten haben sie mir 44.000 Reals. Davon wiederum habe ich bisher 80 Prozent bekommen. Auf den Rest warte ich immer noch."
    Das fehlende Geld soll er bekommen, wenn die zuständige Behörde den genauen Grundstückswert noch einmal nachgerechnet hat. Wie Jeronimo Oliveira geht es vielen: Allein in Recife seien 2.000 Familien enteignet worden, sagen WM-Kritiker. Die Verwaltung spricht von 800 Familien.
    Die betroffene Siedlung ist kein Armenviertel - hier leben Arbeiter und Angestellte mit ihren Familien, die sogenannte untere Mittelschicht. Wie Adjailma Perreira, auch ihr Haus fiel den Bauarbeiten für eine neue, sechsspurige Straße zum Opfer.
    "Ich bin voller Traurigkeit und voller Wut. Über sechs Monate wurden wir unter Druck gesetzt. Wir wussten nicht: Sollen wir verhandeln oder akzeptieren. Uns wurde aber auch immer wieder zu verstehen gegeben: Es lohnt sich nicht zu diskutieren. Eigentlich sollten wir schon im März unsere Entschädigungen haben, aber nichts ist passiert."
    Bei den Enteignungen zeigt sich immer wieder das gleiche Muster: Politiker versprechen, die Bewohner zu entschädigen. Doch das Geld fließt entweder gar nicht oder nur spärlich. Und das, obwohl der Staat für die Weltmeisterschaft knapp 30 Milliarden Reals ausgibt, umgerechnet zehn Milliarden Euro.
    "Ohne die WM wäre uns das nicht eingebrockt worden. Keiner findet es schlimm, dass man Gastgeber eines solchen internationalen Wettbewerbs ist. Aber überlegen Sie mal: Die WM hier auszutragen, wird Brasilien 28 Milliarden Reals kosten. Und bei diesen gigantischen Summen bleibt nicht mal etwas übrig, um den Familien, die hier vertrieben worden sind, eine angemessene neue Wohnung zu verschaffen."
    Immobilienpreise steigen
    In Recife wie auch in anderen brasilianischen Städten steigen die Immobilienpreise im Zusammenhang mit der WM rasant an. Stadtviertel werden enorm aufgewertet durch Firmenansiedlungen, Shopping-Center und bessere Straßen. Das macht das Wohnen für viele Menschen unbezahlbar. Die versprochenen Entschädigungen lägen oft deutlich unter dem, was eine neue Bleibe kostet, berichtet Ana Lira vom Comitê popular da Copa, dem WM-Bürgerkomitee.
    "Dieses WM-Stadion sehe ich mit sehr gemischten Gefühlen. Man hat sich entschieden für eine halb öffentliche, halb private Finanzierung. Die Rechte hat Itaipava, eine Biermarke. Wir fürchten aber, dass der Verein, dem das Stadion gehört, in Zukunft die laufenden Kosten nicht bezahlen kann, und es immer wieder staatlicher Beihilfen bedarf. Es ist also viel zu viel öffentliches Geld für die WM ausgegeben worden."
    Federführend ist der brasilianische Baukonzern Odebrecht, schon jetzt einer der großen Gewinner der WM: Das Unternehmen errichtete mehrere Stadien und etliche Hotels im ganzen Land. Zu den Verlierern zählen die Enteigneten.
    "Wir versuchen, uns mit Protestmärschen und Diskussionen Gehör zu verschaffen. Denn es ist ja ganz offensichtlich: Viele sind auf den Zug Weltmeisterschaft aufgesprungen und versuchen, Dinge voranzutreiben, die sonst nicht oder sehr viel schwerer umzusetzen wären. Projekte, die sowieso in der Schublade lagen, werden jetzt rücksichtslos durchgeboxt."
    Die Wohnviertel rund um die WM-Arena in Recife sind zum Teil willkürlich von mehrspurigen Straßen durchzogen, wo bis vor Kurzem noch Häuser standen. Auch das von Jeronimo Oliveira. Angesichts der radikalen Enteignungen hat der 72-jährige das Vertrauen in die Politiker verloren.
    "Brasilien ist im Augenblick ein Land ohne Regierung, ohne Präsident. Denn normalerweise kann eine Regierung, die etwas verspricht, auch durchsetzen, dass das passiert. Hier aber werden Dinge versprochen und es passiert nichts. Wo also ist die Demokratie in diesem Land?"